Das Leben beginnt auf „StateV“ am Flughafen. In einer virtuellen Wartehalle zieht man eine Nummer und wartet, bis man aufgerufen wird. Dann entscheidet sich, wer man sein wird in der virtuellen Welt: ein Geschäftsmann mit Autohaus? Eine Polizistin, die knallhart durchgreift? Nur wer überzeugend seine Wünsche äußert, wird Mitglied der Community.
„StateV“ ist ein sogenannter Rollenspielserver. Hier treffen sich Menschen, die noch tiefer in die Welt von Computerspielen eintauchen und sich über die üblichen Spielregeln hinaus ein virtuelles Leben aufbauen wollen. Auf den Servern können die Communitys die Games nach ihren eigenen Vorstellungen spielen. Um Teil einer solchen Community zu werden, braucht man zunächst das jeweilige Spiel, die Welt von „StateV“ befindet sich zum Beispiel innerhalb des Games „Grand Theft Auto“ (GTA). Einen Zugang erhält man beispielsweise über das Chatprogramm „Discord“, auf dem die Community parallel zum Spiel kommuniziert. Die Mitgliedschaft bei „StateV“ ist dann kostenlos. Der Server finanziert sich über Spenden und freiwillige Mitgliedsbeiträge.
Die Rollenspiele folgen Regeln, die von einem Skript vorgeschrieben werden: Bei Verhalten X kommt es zu Ereignis Y. Mit einem solchen Skript greifen die Entwickler in die ursprünglichen Codes der Spiele ein. Diese Eingriffe werden von den meisten Studios geduldet, da sich mit der gesteigerten Aufmerksamkeit für die Rollenspiele auch die Originalspiele besser verkaufen. Dennoch bewegen sich die Rollenspielserver in einem rechtlichen Graubereich.
Firmengründung statt Autodiebstahl
Während es in GTA noch darum geht, als Verbrecher Missionen zu erfüllen, konzentriert sich das Leben auf „StateV“ mehr auf die Wirtschaft. „Wir haben ein sehr komplexes Skript geschrieben, das einen detailreichen Wirtschaftskreislauf ermöglicht“, sagt Eike Klindworth. Der 28-Jährige ist freiberuflicher Softwareentwickler und Projektleiter.
Die wöchentlich etwa 2.000 aktiven User von „StateV“ stecken im Spiel viel Zeit in den Aufbau von digitalem Kapital: Nach der Aufnahme in die Community beginnen die meisten damit, in einer Mine Rohstoffe abzubauen, um sich ein Grundvermögen zu verdienen. Einige bauen sich damit eine Firma mit Lagern, kaufen Rohstoffe an, verarbeiten sie weiter. Andere werden Ärzte oder Steuerprüfer. Um an solche Jobs zu kommen, braucht es allerdings Ausdauer. „Wer auf den Server kommt, kann nicht gleich einen dicken Sportwagen kaufen. Dafür muss man schuften“, sagt Klindworth. Wie im echten Leben gibt es auch auf „StateV“ soziale Aufsteiger und jene, die unten bleiben. „Man hat unglaublich viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln“, sagt Diana, die im Game eine Polizistin ist. Sie liebe das Schauspielen, sagt sie, und wolle eine Geschichte erzählen. Deswegen streamt sie ihr Spiel auf der Gaming-Streamingplattform Twitch. „Die Leute schalten immer wieder ein, um zu wissen, wie es weitergeht.“
Die Pandemie brachte Rollenspielservern großen Zulauf, vielleicht auch, weil die Nutzer im Spiel eine Gemeinschaft und Zusammenhalt verspüren, die während des Lockdowns fehlten. „StateV“ hat inzwischen 80.000 Mitglieder, von denen einige leidenschaftlich ein Geschäft aufbauen, das nur virtuell existiert. Trotzdem sind die Rollenspielserver innerhalb des Gaming-Universums immer noch ein Randphänomen.
Friendenskommunen, neue Religionen, Nazis gewinnen den zweiten Weltkrieg: im Rollenspiel ist fast alles möglich
Bei „Minecraft“, dem meistverkauften Computerspiel aller Zeiten, hat sich Alex Kisiel eine eigene Gesellschaft erschaffen. Normalerweise geht es im Spiel um den Abbau von Rohstoffen und den Bau prächtiger Häuser. Der 20-Jährige dachte sich eigene Regeln für das Zusammenleben aus und setzte kurzerhand 200 Spielende auf einer Insel aus. Ihre Aufgabe: überleben. „Ich habe etwa drei Wochen dafür gebraucht, mir den Ablauf zu überlegen, das Admin-Team aufzubauen, den Server zu testen“, sagt er. Die Experimente zeichnete er auf und lud sie auf YouTube hoch. Dort wurden sie millionenfach abgerufen. „Wenn man die Spielerinnen und Spieler sich selbst überlässt, werden sie äußerst kreativ“, sagt Kisiel. So macht sich eine Gruppe im Spiel daran, ein Kollektiv zu gründen, in dem die Menschen friedlich zusammenleben, Ackerbau betreiben und einen Rat wählen, der der Gemeinde vorsteht. Andere Spieler bilden eine Jagdgemeinschaft, andere errichten Tempel, gründen eine Religion. Sie alle kommunizieren über den Chat im Spiel oder über „Discord“.
Es gibt allerdings auch Rollenspielserver, auf denen offen Gewalt und Hass ausgelebt werden. Das Strategiespiel „Company of Heroes“ wird zum Beispiel von Nazis genutzt, um Schlachten des Zweiten Weltkriegs nachzustellen – und die Nationalsozialisten gewinnen zu lassen. Oft werden Symbole wie das Hakenkreuz per Modifikation ins Spiel eingefügt. Die Studios, aus denen die Spiele stammen, setzen dem wenig entgegen, obwohl es möglich wäre. Sie berufen sich unter anderem auf die Meinungsfreiheit in den USA, wo die meisten der Spiele entwickelt werden. Dort sind die Symbole nicht verboten.
Gegen Diskriminierung – und dann sogar im RL auf die Straße
Andere Communitys dagegen stellen sich offen gegen Rassismus und Diskriminierung. Zum Beispiel „Tyria Pride“, eine Community im Spiel „Guild Wars 2“. Regelmäßig gibt es auf mehreren Servern Pride-Paraden, an denen Hunderte Menschen teilnehmen. Dann sieht man die Völker in Rüstungen in Regenbogenfarben durch die Spielwelt ziehen – und offen zeigen und feiern, dass sie queer sind. „Online-Communitys können gerade queeren Menschen, die oft jung und allein sind, Unterstützung bieten“, sagt Rok Zupan, der 28-jährige Gründer von „Tyria Pride“. Das ganze Jahr über stehen die etwa 800 Mitglieder in Kontakt über das Chatprogramm „Discord“. So entstehen digital wichtige Beziehungen unter den Spielenden: „Ich habe so einige meiner engsten Freunde getroffen“, sagt Zupan.
Die erste virtuelle Pride-Parade fand im Sommer 2016 statt. Wenige Wochen nachdem im queeren Nachtclub „Pulse“ in Orlando 49 Menschen bei einem Attentat getötet wurden. Die Community organisierte damals Spenden, die den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden zugutekamen. Und mitunter verlagert sich der Protest auch auf die Straßen in der realen Welt. „Letztes Jahr habe ich dann zum ersten Mal an der echten Pride teilgenommen“, sagt Julia. Die 27-Jährige ist trans und hatte zuvor Angst, an einer queeren Demo teilzunehmen. „Guild Wars 2“ sei wie ein zweites Zuhause für sie gewesen – ein Ort, an dem sie Mut schöpfte und Rückhalt bekam.
„Hier bin ich, wer ich bin, und ich werde mich nicht mehr verstecken.“
Titelbild: Wu Jingli