Es begann in einem Regal, vielleicht beim Babybrei. Von dort breiteten sich Klimalabels schleichend im Supermarkt aus. Auf Milch, Tiefkühlpizza, Spaghetti, Puderzucker. Die Europäische Kommission hat 2020 mehr als 1.400 Lebensmittel untersuchen lassen, jedes zehnte Produkt warb mit Claims wie „klimaneutral“ oder gar „klimapositiv“.
Sie versprechen: Die CO₂-Emissionen, die bei der Herstellung dieses Produkts entstehen, werden kompensiert, also ausgeglichen. So kann theoretisch jedes Produkt klimaneutral werden, selbst wenn die Herstellung oder der Transport klimaschädlich bleiben. Schaut man genauer hin, zeichnet sich hinter den Labels ein neues Geschäftsfeld ab, auf dem verschiedene Akteure absahnen, während das Klima nur bedingt profitiert.
Ein Beispiel: Aldi kennzeichnet seit Ende 2020 Kuhmilch der Eigenmarke „Fair&Gut“ als „klimaneutral“. Dafür hat Aldi CO₂-Zertifikate von ClimatePartner gekauft. Das runde blaue Label des Zertifikatehändlers ist seitlich am Etikett angebracht und enthält eine Tracking-ID. Diese kann man auf der Webseite von ClimatePartner eingeben und erfährt dann: Fast 61.000 Tonnen CO₂-Äquivalente hat Aldi bis Ende 2022 für die Milch kompensiert.
Klimaneutral, das hieße vor allem: erst reduzieren, dann kompensieren
Dafür hat der Discounter CO₂-Zertifikate von Projekten erworben, die anderswo die Emissionen einsparen, die er selbst ausstößt: Aufforstung in Uruguay, eine Fotovoltaikanlage in Indien, saubere Kochöfen in Malawi. Die Datenbank von ClimatePartner hat etwas von einem rabbit hole: Man klickt sich immer weiter durch die Projekte und findet viele Details. Aber eine zentrale Frage geht in all der Transparenz unter, sie steht ganz zu Beginn der Emissionskette: Wie viele Emissionen entstehen eigentlich bei der Herstellung dieser Milch?
Kuhmilch – das ist bekannt – ist kein klimafreundliches Produkt. Die Herstellung eines Liters ist im Durchschnitt in etwa so klimaschädlich wie ein für den Autoverkehr verbrauchter Liter Benzin. Das sagt das Aldi-Management selbst. Fair enough. Laut Recherchen der NGO Foodwatch aber hat Aldi nicht genau erhoben, wie viel CO₂ bei den Betrieben anfällt, die die Milch produzieren. Im Umkehrschluss könne der Discounter nicht wissen, wie viel Emissionen er ausgleichen oder wo er – wesentlich sinnvoller – Emissionen verhindern könne.
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Eigentlich klar: Wer das Klima schützen möchte, sollte versuchen, eigene Emissionen zu reduzieren, statt sie nur zu kompensieren. Entsprechend werben die Anbieter von Klimaneutral-Labels damit, Unternehmen auch bei der Vermeidung und Reduktion von CO₂-Emissionen zu beraten. Verschiedene Recherchen zeigen aber, dass das nicht der Fokus der Händler ist. Als Redakteurinnen der „Zeit“ versuchten, ein Klimaneutral-Label für einen erfundenen Blumenladen zu erhalten, wurden sie weder von ClimatePartner noch vom Konkurrenten myclimate auf Reduktionsmaßnahmen angesprochen. Schlimmer noch: Sie erhielten von beiden Händlern das angefragte Label – dabei war der Blumenladen ausgedacht und alle Angaben, die sie zur Berechnung machen mussten, geschätzt. Das Fazit der Redakteurinnen: „Offenbar geht es vielen Anbietern von Klimazertifikaten weniger ums Klima, sondern eher um das Geld, das sich mit Labels verdienen lässt.“
Neben Climate Partner und myclimate gibt es weitere Unternehmen, die Klimalabels anbieten. Die Labels sehen alle unterschiedlich aus und sind – anders als etwa beim Bio-Siegel – gesetzlich nicht geregelt. Aber dazu später mehr. Denn zunächst mal sind diese Labels: ein großes Geschäft.
Nichtstaatliche CO₂-Kompensation geht in der Regel so: Ein Unternehmen möchte die Emissionen ausgleichen, die bei der Herstellung eines Produkts (oder für das ganze Unternehmen) anfallen. Dafür wird an anderer Stelle CO₂ eingespart. Entweder wird dort eine Emission verhindert – oder CO₂, das bereits in die Atmosphäre entwichen ist, wieder gebunden. Das geschieht in Klimaschutzprojekten überall auf der Welt, vor allem im globalen Süden. Eigentlich sollte das Geld der Unternehmen direkt hierher fließen, in den Klimaschutz. An dem Deal sind aber in der Regel vier Parteien beteiligt.
1 – Die Käufer
Unternehmen wie Volkswagen wollen sich über den Kauf von CO₂-Zertifikaten von ihren Klimaschäden freikaufen. (Und das auch potenziellen Kundinnen und Kunden zeigen, um umweltbewusst zu wirken.)
2 – Die Händler
Die Zertifikate werden meist von Start-ups oder Beraterfirmen vermittelt. Sie sind die Anlaufstelle für Unternehmen, die klimaneutral werden wollen. Und verdienen damit viel Geld. ClimatePartner wirbt mit mehr als 5.000 Kunden in über 60 Ländern. Foodwatch hat überschlagen, dass ClimatePartner 2022 mit gerade mal elf dieser Kunden etwa 1,2 Millionen Euro eingenommen hat.
3 – Die Projektbetreiber
Sie sorgen dafür, dass überhaupt Zertifikate auf den Markt kommen – indem CO₂ eingespart wird, weil zum Beispiel ein Stück Regenwald nicht wie geplant abgeholzt wird. Auch sie verdienen an dem Deal.
4 – Die Zertifizierer
Sie stehen über allen, weil sie entscheiden, wie viele Zertifikate sich die Klimaprojekte anrechnen dürfen. In drei von vier Fällen weltweit übernimmt diese Aufgabe Verra.
Die Zertifizierungs-NGO Verra reguliert also einen milliardenschweren Markt. Eine kürzlich erschienene Recherche (wieder von der „Zeit“) zeigt, dass viele Verra-Zertifikate wertlos sind, vor allem die für Waldschutzprojekte.
Was, wenn der kompensierte Wald abbrennt?
Bei Waldschutzprojekten gehen viele davon aus, dass neue Bäume gepflanzt werden, um CO₂ zu kompensieren. Dabei schützen die meisten dieser Projekte Bäume, die sonst gefällt worden wären. Woher die Projekte wissen, dass diese Bäume ohne das Schutzprojekt gefällt worden wären? Die Antwort ist so kurz wie verblüffend: Sie schätzen.
Natürlich greift Verra auf Daten zu, etwa von vergleichbaren Waldstücken. Aber genau lässt sich nie prognostizieren, wie viel CO₂ eingespart wird, wenn jemand ein Waldstück schützt. Zumal bei Wäldern erschwerend hinzukommt, dass sie abbrennen können – und das angerechnete CO₂ so plötzlich wieder in die Atmosphäre entweicht. Trotz all dieser Variablen machen Waldschutzprojekte 40 Prozent der Verra-Zertifikate aus. Laut den Daten der „Zeit“ sind mindestens neun von zehn dieser Zertifikate wertlos. Das Unternehmen widerspricht. In einer Gegendarstellung betont es, seine Projekte seien durch jahrzehntelange Forschung von Wissenschaftler:innen, Naturschutzgruppen, grüne Unternehmen und verschiedene UN-Gremien entwickelt worden.
Es gibt mindestens drei weitere Fragen, die Klimalabels im Supermarkt aufwerfen:
Erstens: Wäre das CO₂ nicht eh eingespart worden? Damit direkte CO₂-Kompensation funktioniert, muss sicher sein, dass es wirklich das Geld eines Unternehmens wie Aldi ist, von dem am Ende in Uruguay Eukalyptusbäume gepflanzt werden. Aber das ist nicht einfach zu belegen. Im Fall von Aldi zweifelt Foodwatch. Die NGO schreibt, der Betreiber der Eukalyptusplantage unterhalte in der Region weitere Aufforstungsprojekte, in die kein Geld aus dem Zertifikatehandel fließe.
Zweitens: Wurde das gesparte CO₂ bereits von anderen eingeplant? Mit dem momentanen System können CO₂-Einsparungen doppelt gerechnet werden. Wenn die Regierung Uruguays zum Beispiel die Aufforstung bereits in ihrer nationalen Klimabilanz verrechnet, wäre das Aldi-Zertifikat nichtig. Laut Foodwatch schließen die Vermittlungsagenturen solche doppelten Anrechnungen nicht effektiv aus.
Drittens: Ist der Schaden durch das CO₂ eingepreist? Zuletzt ist auch fragwürdig, ob die Preise für die CO₂-Zertifikate angemessen sind. 2021 kosteten Zertifikate im Schnitt rund 3,50 Euro pro Tonne CO₂. Die Klimaschäden einer ausgestoßenen Tonne CO₂ lagen im selben Zeitraum aber bei 201 Euro – laut Umweltbundesamt, das eher zurückhaltend schätzt.
Das System hat klare Schwächen, die allen beteiligten Akteuren bekannt sind – mit Ausnahme der Endkund:innen, die sich im Supermarkt womöglich zu viel vom Label versprechen und eher zur „klimaneutralen“ Milch greifen als zur Konkurrenz.
Wo bleibt die Regulierung?
Auch der Staat lässt das – noch – einfach geschehen: Die freiwillige CO₂-Kompensation von Unternehmen wird aktuell weder durch Gesetze reguliert noch durch den Staat geprüft. Ob auf einer Verpackung „klimaneutral“ stehen darf, müssen jetzt Einzelfälle vor Gericht zeigen. Gerade hat die Verbraucherschutzorganisation Deutsche Umwelthilfe ein Verfahren gegen TotalEnergies gewonnen. Das Energieunternehmen hatte sein Heizöl (!) als klimaneutral beworben.* Das Landgericht Düsseldorf war Monate mit dem Fall beschäftigt, auch für die Gerichte ist das Thema neu.
Sie müssen erst festlegen, auf Basis welcher existierenden Rechtsvorschriften sie diese Fälle überhaupt entscheiden können. „Für uns ist das Verfahren eine totale Gutachtenschlacht“, sagt Agnes Sauter, die bei der Deutschen Umwelthilfe die ökologische Marktüberwachung leitet. Sie versuchen, Präzedenzfälle zu schaffen, in denen die Werbung mit „Klimaneutralität“ verboten wird.
Das ist es auch, was die Deutsche Umwelthilfe, Foodwatch und die Verbraucherzentralen von der Politik fordern: ein Werbeverbot für „Klimaneutralität“. Andere halten selbst ein Verbot für zu kurz gegriffen. Gut vorstellbar, dass Hersteller „vorteilhaft für das Klima“ auf ihr Produkt schreiben, wenn „klimaneutral“ und „klimapositiv“ verboten sind. In Frankreich gilt seit Januar, dass Unternehmen ein Produkt nur als „klimaneutral“ bewerben dürfen, wenn sie eine CO₂-Bilanz seines gesamten Lebenszyklus vorlegen – von der Herstellung bis zur Entsorgung.
* Anmerkung, 29. März: Wir haben diesen Teil nach dem Urteil des Landgerichts Düsseldorf aktualisiert.
Titelbild: Dirk Kruell/laif