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„Ich habe im Dienst auch Grenzen überschritten“

Rafael Behr war lange Polizist, seither forscht er zur Polizei. Und findet: Wir sollten ihr misstrauen

Polizeigewalt

Rafael Behr empfängt in der Hochschule der Polizei in Hamburg – und mit ihm seine Hündin Mala. Die will erst mal gekrault werden. „Entschuldigen Sie“, sagt Behr. „Sie ist sehr liebesbedürftig. So wie Polizisten.”

fluter.de: Herr Behr, frustriert Sie Ihre Arbeit?

Rafael Behr: Ja, manchmal schon. Ich forsche seit 20 Jahren zu denselben Problemen: Machtstrukturen, Gewalt und Rassismus innerhalb der Polizei. Wir wissen, dass es klares Verbesserungspotenzial gibt. Geändert hat sich in all der Zeit aber wenig.

Bevor Sie sich der Forschung zuwandten, waren Sie selbst Polizist, von 1975 bis 1990. Haben Sie damals Gewalt ausgeübt?

Ja. Ich habe im Dienst auch Grenzen überschritten. Einmal führte meine Hundertschaft am Kernkraftwerk Kalkar während einer Großdemonstration eine Übung durch. Dann gab es tatsächlich einen Alarm. Unsere Anweisung war, die Demonstrierenden abzudrängen.

Was hieß das konkret?

Wir haben unsere Gummiknüppel genommen und den Leuten auf den Rücken gehauen. Nach dem Einsatz fragte unser Hundertschaftsführer, ob jemand Gewalt angewendet habe. Ich meldete mich. Mein Vorgesetzter winkte nur ab, das sei eine Lappalie gewesen. So was passiert oft, auch heute noch. Gerade junge Polizisten merken sich dann: Das war jetzt noch keine Gewalt.

Gewalt ist erst schlimm, wenn jemand ins Krankenhaus muss.

Oder wenn sich jemand beschwert.

Gibt es denn keine Alternative zur Gewalt?

Die Schmerzzufügung ist ein notwendiger Teil des Gewaltmonopols.

Das müssen Sie erklären.

Die Alternativen zur Gewalt sind Kommunikation und Deeskalation. Die Voraussetzung dafür ist, dass es eine gemeinsame Verständigungsmöglichkeit gibt. Kommunikation ist ein Prozess, der zwei Seiten betrifft. In manchen Situationen ist Reden aber nicht drin. Bei einer Geiselnahme zum Beispiel. Da gibt es keinen Spielraum.

Eine Person von einer Straßenblockade ohne Schmerzen wegzutragen, sollte aber möglich sein.

Stimmt. In solchen Fällen wäre es klug zu fragen: Muss das sein? Muss Gewalt angewendet werden?

In Dortmund wurde vor knapp einem Jahr ein 16-jähriger Senegalese bei einem Polizeieinsatz erschossen. Er wurde vier Mal von einer Maschinenpistole der Polizei getroffen. Zwölf Polizist:innen waren vor Ort. Der Jugendliche soll mit einem Messer auf sie zugelaufen sein. Musste man ihn erschießen?

Das ist ein ganz wichtiger Fall, weil er viel über die Erzählweisen der Polizei aussagt. Am Anfang hieß es, der Junge sei mit dem Messer auf die Polizisten zugelaufen. Man habe nicht anders gekonnt, als ihn zu erschießen, zum eigenen Schutz. War die Gewalt notwendig? Die Polizei sagt: Ja.

Heute wissen wir mehr.

Damals wurde der Notruf eines Zeugen mitgeschnitten, der die Erzählung der Polizei widerlegt. Ich gehe trotzdem so weit zu sagen: Die haben nicht bewusst gelogen. Der Einsatzleiter schrieb in seinem Bericht, was er glaubte, gesehen zu haben. Trotzdem war die Erzählung objektiv nicht wahr.

Da spielen sicher auch Emotionen mit?

Natürlich. Stellen Sie sich vor, Sie sind Einsatzleiter. Sie haben gerade einen Einsatz angeführt, bei dem ein Mensch durch die Hand einer Ihrer Leute gestorben ist. Ihr Vorgesetzter macht Druck, möchte einen Bericht. Da schreiben Sie doch nicht: „Entschuldigung, wir haben total versagt. Wir haben den aus Versehen erschossen.“

Polizeigewalt (Foto:  Gordon Welters/laif)
(Foto: Gordon Welters/laif)

In Frankreich wird viel lauter über Polizeigewalt gestritten. Nachdem ein Polizist einen 17-Jährigen bei einer Fahrzeugkontrolle erschossen hatte, gab es wochenlang Aufstände. Gegen den Polizisten wird wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung ermittelt. Wie wird die Situation unter Polizist:innen hierzulande wahrgenommen?

Klar ist: Der Polizist hatte keine Rechtsgrundlage für den Schuss. Er hat jemanden getötet, ohne es zu dürfen. Diese Tatsache wird von einigen Polizisten, den Polizeigewerkschaften und auch rechten Parteien kleingemacht. Andererseits gibt es viele deutsche Polizisten, die sich für das schämen, was da passiert ist. Nach außen und nach innen. Sie wissen, dass die Handlung falsch war, aber sie wollen den französischen Kollegen auch nicht vorverurteilen. Grundsätzlich fällt mir auf, dass die Tat des Polizisten in den Hintergrund rückt und das öffentliche Bewusstsein viel mehr auf die Reaktionen und Proteste gerichtet ist.

Wie schätzen Sie persönlich den Fall ein?

2017 gab es in Frankreich eine Änderung des Polizeigesetzes. Seitdem dürfen Polizisten nicht nur bei Notwehr schießen, sondern auch dann, wenn sie vermuten, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Das hat sich kulturell massiv ausgewirkt: Die Hürden, die Pistole oder Gewalt grundsätzlich einzusetzen, sind stark gesunken. Aus dieser Entwicklung heraus hat auch der Polizist dort im Pariser Vorort geschossen. Das ist kein Ausnahmefall: Das Gesetz erlaubt den Polizisten, offensiver mit ihrer Gewalt umzugehen.

„Solange Gewalt ein Bestandteil unserer Gesellschaft ist, kommt auch die Polizei nicht ohne aus“

Zum Thema Polizeigewalt in Deutschland erschien im Mai eine Langzeitstudie des Kriminologen Tobias Singelnstein. Darin geben Polizist:innen an, dass sie Angst vor Kontrollverlust haben und deswegen dominanter auftreten.

Seit langer Zeit fordern Wissenschaft und Zivilgesellschaft, dass wir Polizisten psychisch unterstützen und schulen. Im Verlaufe der Polizeiausbildung müssen sie zwar Psychologieunterricht besuchen, in dem geht es aber vorrangig um Teamarbeit, nicht um Deeskalationsprinzipien. Die Polizeischule besteht aus Rechtsausbildung, Einsatztraining und vielen Regeln, die sie lernen müssen. Psychologische Interventionskompetenz, das Einordnen und Kommunizieren von Gefühlen oder die Reflexion der eigenen Rolle werden nicht gelehrt.

Man händigt Leuten potenziell tödliche Waffen aus, ohne sicherzugehen, dass sie in der Lage sind, ihren Umgang damit zu reflektieren.

Ganz so ist es nicht. Sie brauchen ja keine Reflexion, um so eine Waffe zu handhaben. Sie müssen das Gesetz kennen, sie müssen wissen, wann und wie sie die Waffe anwenden dürfen. Das wird schon vermittelt.

Nach dem Fall in Dortmund haben Sie alternative Maßnahmen gefordert, zum Beispiel den Einsatz der Distanzstange.

Die Polizei hat es ständig mit Messerangriffen durch psychisch aufgeregte Menschen zu tun. Das sind meist keine Kriminellen. Trotzdem ist die Standardanwendung die Schusswaffe. Die Regel ist: Kommt ein Mensch mit Messer in der Hand näher als sechs Meter, wird geschossen.

Die Distanzstange gibt es immer noch nicht.

Nur bei Spezialeinheiten. Und auch die setzen sie nur unter besonderen Umständen ein. Ich stoße mit meinen Forderungen auf Mauern. Wenn ich sage: „Könnt ihr tödliche Waffen nicht noch mal überdenken?“ Dann heißt es: „Nein, können wir nicht.“ Mittlerweile nutzt die Polizei auch Elektroschockpistolen, Taser genannt. Die können aber auch tödlich sein. Gegen Messer helfen nur starke Waffen – von dieser Vorstellung will man innerhalb der Polizei nicht abrücken.

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Polizeigewalt (Foto:  Tobias Gerber/laif)
(Foto: Tobias Gerber/laif)

Ist Polizeiarbeit ohne Gewalt überhaupt möglich?

Die ist genauso wahrscheinlich wie eine Gesellschaft ohne Gewalt. Solange Gewalt ein Bestandteil unserer Gesellschaft ist, kommt auch die Polizei nicht ohne aus. Sie darf Gewalt anwenden, wenn sie verspricht, damit mehr Gewalt zu verhindern. Das ist eine sehr sensible Grenze, die manchmal weit verschoben wird.

In den meisten Fällen hat eine Grenzüberschreitung von Polizist:innen kaum Konsequenzen. Laut der Singelnstein-Studie kommen gerade mal zwei Prozent aller Strafverfahren zu Verdachtsfällen gegen Polizist:innen überhaupt vor Gericht.

Polizeibeamte sind besser als andere in der Lage, ihre Wahrnehmung glaubwürdig darzustellen. Das sehen Sie auch am Beispiel des erschossenen 16-Jährigen in Dortmund: Kurz nach dem Einsatz gab die Polizei bekannt, es habe sich um Notwehr gehandelt. Die Tonaufnahme stellt die Situation deutlich anders dar. Gäbe es die Aufnahme nicht, hätte man die Erzählung der Polizei glauben müssen. Nur deswegen ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft.

Steht ganz am Anfang des Problems der polizeiliche Korpsgeist? Im Zweifel müssen Kollegen:innen gegen Kolleg:innen aussagen …

Das sind zwei Seiten einer Medaille. Einerseits gibt die Kultur der Zusammengehörigkeit Schutz und Halt. Andererseits birgt sie auch einen Zwang zum kollektiven Handeln. Eine der ersten Sachen, die unsere Studierenden bei ihren Praxiseinsätzen lernen, ist: Was unter uns gesagt wird, bleibt unter uns. Es kostet viel Kraft, sich von dieser Gemeinschaft zu lösen. Da steht man schnell allein gegen den geballten Korpsgeist. Mein Vorschlag wäre ein anonymisiertes Beschwerdeverfahren, mit dem Beamte auf Missstände hinweisen könnten.

Polizist:innen müssen im Falle einer Untersuchung nicht nur gegen ihre Kolleg:innen aussagen, sondern sogar gegen sie ermitteln. Deshalb fordern Sie seit Jahren ein unabhängiges Kontrollorgan. Wann wird das Realität?

In diesem Leben werde ich das wohl nicht mehr erleben, zumindest keine unabhängige Stelle, die auch selbst gegen die Polizei ermitteln kann.

„Wie viele Menschen durch Polizeieinsätze zu Schaden kommen, weiß niemand, nicht mal bei Großeinsätzen wie einem G-20-Gipfel“

In einem Streitgespräch mit Ihrem Kollegen Tobias Singelnstein sagte Manuel Ostermann, der stellvertretende Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft: „Wir haben kein Transparenzproblem, und das rechtsstaatliche Verfahren funktioniert.“ Er sieht kein strukturelles Problem und deshalb auch keinen Bedarf für ein unabhängiges Kontrollorgan. Warum positioniert sich die Polizeigewerkschaft so?

Die Gewerkschaft müsste zugeben, dass sie ihre Betreuungs- und Beobachtungsfunktion nicht erfüllt oder vernachlässigt hat. Sie würde sich angreifbar machen. Bei solchen Aussagen geht es um den Erhalt der Deutungsmacht. Gewerkschaften sind Teil der Polizei. Und die lebt von Dominanzdurchsetzung.

Eine sanftere Kontrollmaßnahme wäre die Kennzeichnungspflicht. Sie soll dafür sorgen, dass einzelne Polizist:innen nach dem Einsatz über Namensschilder oder Personenkennziffern identifiziert werden können. Die meisten EU-Länder haben diese Pflicht, aber noch nicht alle Bundesländer.

Weil sich die Gewerkschaften dagegen wehren. Das erste Bundesland mit Kennzeichnungspflicht war Berlin. Eine Leistung des damaligen Polizeipräsidenten, der sich gegen erheblichen Widerstand durchgesetzt hat. Damals wurden viele Befürchtungen in die Welt gesetzt: Die Kennzeichnung sei lästig, man könne damit Polizisten enttarnen, sie bedrohen, ihren Kindern nachstellen. Nichts dergleichen ist passiert. Aber die Gewerkschaften argumentieren bis heute so. Sie sind mächtig genug, um die bundesweite Kennzeichnungspflicht zu behindern.

Profitieren Polizisten nicht auch von mehr Transparenz?

Ich halte den psychologischen Effekt für entscheidend. Mit der Kennzeichnung durch eine Ziffernfolge ist ein Polizist intern identifizierbar, nach außen aber nicht entblößt. Das signalisiert: Wir schützen dich, aber du kannst dich nicht in die Anonymität verdrücken. Ich bin überzeugt, dass Polizisten mit diesem Wissen in Einsätzen anders handeln.

Apropos Transparenz. Die Zahl der Verletzten bei Polizeieinsätzen in Deutschland wird nicht erfasst.

Das finde ich schlimm. Die Verletzungen der Polizisten werden schließlich ganz genau aufgezeichnet. Egal wie schwer die Verletzung und ob sie mit oder ohne Fremdeinwirkung entstanden ist. Aber wie viele Menschen durch Polizeieinsätze zu Schaden kommen, weiß niemand, nicht mal bei Großeinsätzen wie einem G-20-Gipfel. Ich habe Sorge, dass die Polizei aus dem Blick verliert, wie ihr Handeln wirkt.

Wer muss sich darum kümmern?

Ich glaube, letztlich liegt die Verantwortung bei den Behördenleitungen und den Innenministern der Bundesländer, die politisch für die Polizei verantwortlich sind. Einige scheinen in jüngster Zeit ein größeres Problembewusstsein entwickeln zu haben. Ich denke an Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Berlin. Dagegen gibt es gerade im Süden des Landes manche Bundesländer, die nach wie vor vollkommen negieren, dass es in der Polizei überhaupt strukturelle Probleme wie Rassismus und Racial Profiling gibt.

Rafael Behr ist ehemaliger Polizist aus Hessen, promovierter Soziologe und heute Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie. Er unterrichtet an der Akademie der Polizei in Hamburg. (Foto: privat)

Titelbild: Tobias Gerber/laif

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