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Lunchtime statt Crunchtime

Games entwickeln und dafür bezahlt werden, geil! Aber tatsächlich heißt es in der Branche oft: Überstunden, Kündigungen, Sexismus. In den USA streiten Game-Designer für bessere Arbeitsbedingungen

  • 6 Min.
Game Workers

Die Arbeitsstunden steigen plötzlich, auf bis zu 20 am Tag. Du schläfst im Büro, um dir den Arbeitsweg zu sparen, verzichtest auf Toilettengänge, Mittagspausen und Wochenenden. „Crunch“ nennen Game-Designer diese letzte Phase vor dem Release eines Videospiels. Fehler werden behoben, Charaktere kriegen den letzten Schliff. Crunches können Tage oder Wochen dauern. Sie fordern ihren Tribut, aber bringen die Branche auch gewaltig ins Rollen.

Weltweit zocken mehr als drei Milliarden Menschen, 2023 setzte die Branche knapp 172 Milliarden Euro um. Zum Vergleich: Die Kinos kamen in derselben Zeit weltweit auf knapp 32 Milliarden (wobei mit „Super Mario Bros.“ der zweiterfolgreichste Film des Jahres eine Videospieladaption war). Die Games-Industrie ist gigantisch, entsprechend groß ist der Wettkampf zwischen den Studios.

Die Crunches seien seit jeher eines der größten Probleme in der Branche, sagt Johanna Weststar von der Western University in Ontario. Sie lehrt zu Arbeitsbeziehungen und Personalmanagement und forscht seit Jahren zur Gaming-Industrie. „Die Studios stecken in einem eisernen Dreieck aus engen Deadlines, versprochenen Game-Features und begrenztem Budget“, sagt Weststar. In diesem Dreieck mache der fehlende Arbeitsschutz die Entwickler zu dem Teil, dem die Chefs am ehesten noch etwas abpressen können, um sich von der Konkurrenz abzuheben. „Crunch“, sagt Weststar, „heißt nichts anderes als unbegrenzte unbezahlte Überstunden.“ In den USA ist das normal. Vielen IT-Angestellten, auch Game-Designern, müssen Überstunden nicht bezahlt werden.

Die Idee, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder gar in den Arbeitskampf zu treten, ist in den USA weniger ausgeprägt als etwa in Deutschland. Weil das persönliche Streben nach Glück Verfassungsrang hat, hingen die USA schon immer stark am Ideal des Individualismus. In der Industrialisierung gab es durchaus starke Arbeiterbewegungen, die ihre Macht mit dem Kalten Krieg zunehmend einbüßten. Nicht zuletzt, weil Gewerkschaftler schnell als kommunistisch gebrandmarkt wurden. Heute haben etliche Firmen das „Union Busting“, also die systematische Blockade von Arbeitnehmervertretungen, zu ihrem Geschäftsmodell gemacht, und in vielen US-Bundesstaaten gelten sogenannte Right-to-work-Gesetze, die die finanziellen und politischen Möglichkeiten der Gewerkschaften einschränken. 2022 gehörten nur sechs Prozent der Beschäftigten einer Gewerkschaft an.

In der Gaming-Industrie sind Überstunden Joballtag

In der Gaming-Industrie wurde die Idee, Ungerechtigkeiten mit Arbeitskämpfen zu begegnen, regelrecht geschmäht. Die „Crunch Culture“ galt schlicht als Teil des Jobs, die Arbeit in den Studios als Sache von Enthusiasten, die ihrer Berufung nachgehen, nicht einem pünktlichen Feierabend. In einer Umfrage der International Game Developers Association sagten 28 Prozent der Entwickler, dass Crunchtimes für sie Joballtag seien (und weitere 25 Prozent gaben an, dass sie Überstunden machen müssen, die aber nicht „Crunch“ genannt werden).

Dabei ist die Arbeit in den Studios nicht nur hart, sondern auch unsicher. Auf Crunches folgen häufig ruhigere Phasen, die Spiele sind ein Erfolg oder floppen, und die Studios reagieren auf dieses ständige Auf und Ab. Als 2023 viele Releases erschienen, die wegen der Pandemie verschoben worden waren, endeten mit den Projekten auch Tausende Jobs. Mindestens 10.500 Stellen wurden 2023 in der Gaming-Industrie gestrichen.

Und noch ein Problem hat die Gaming-Industrie: 2018 berichteten erstmals Mitarbeiterinnen öffentlich von Mobbing, beruflicher Benachteiligung und sexualisierter Belästigung in den Studios. Daraufhin traten hochrangige Manager zurück, und in großen Studios wie Activision Blizzard („World of Warcraft“) und Riot Games („League of Legends“) protestierten und streikten Mitarbeitende. „Das war ein Funke“, sagt Johanna Weststar. „Die Proteste haben gezeigt, dass die Energie für einen Kulturwandel studioübergreifend da ist.“

Game Workers Unite (GWU) versucht, diese Energie zu nutzen. Das Logo der Gruppe zeigt eine Faust, die sich um einen Controller ballt. Eine Kampfansage? „Viele denken, wir rufen primär coole Slogans, bewerfen die Arbeiter mit Ausgaben von Marx’ ‚Kapital‘ oder hissen Banner, während sie das Studio stürmen“, sagte GWU-Mitgründerin Emma Kinema mal lachend auf einem Vortrag. Dabei sei Arbeitskampf weniger der Sturm auf die Bastille als ein Zuhören und ein Austausch über die Möglichkeiten, wie man Probleme am Arbeitsplatz gemeinsam lösen kann.

Auch auf Discord wird für den Arbeitskampf geworben

GWU setzte sich für stabile und faire Löhne ein und dafür, dass Crunches verboten werden. Coole Slogans gab es trotz Kinemas Anmerkung: GWU-Sticker mit „Press X to form union“ oder „Fight bosses not devs“ (Anm. d. Red.: „developers“) zierten Games-Messen und Studiozentralen. Und vor allem auf Discord war GWU aktiv, um die Chatplattform für Gamer zum Ort des Arbeitskampfes der Entwickler zu machen. Heute tauscht man dort Tipps zur Gewerkschaftsbildung und Streiks aus, die in einigen Studios verfangen haben. Bei Sega of America, dem kalifornischen Ableger der Entwickler von „Sonic“, verhandelte die Gewerkschaft Lohnerhöhungen und Kündigungsschutz, und Activision Blizzard übernahm Mitarbeitende mit Zeitverträgen in Vollzeitstellen, um eine Gewerkschaft zu verhindern.

Dieser Text ist im fluter Nr. 91 „Streiten“ erschienen

Und nicht nur in den USA rührt sich was. In Großbritannien ist der GWU-Ableger mittlerweile gesetzlich als Gewerkschaft anerkannt. In Schweden sind Entwickler einer Gewerkschaft beigetreten, in Frankreich finanziert eine Videospielgewerkschaft Entwicklern den Streik. Und in Deutschland? Rührt sich noch wenig.

Hierzulande ist die Gaming-Industrie eher klein. Spricht man mit Menschen in der Branche, zeichnen alle dasselbe Bild: Die großen Releases werden woanders entwickelt, für Crunches gibt es Ausgleichstage, und Entwickler sind auf dem Arbeitsmarkt zu begehrt, um sich von einem Studio schlecht behandeln zu lassen. Entsprechend wenig Einfluss konnte der deutsche Ableger von Game Workers Unite bislang erlangen. Und auch die Anstrengungen von ver.di, Spieleentwickler für sich zu gewinnen, sind bislang vergebens.

Doch auch in Deutschland gab es zuletzt Kündigungen, einige Studios mussten schließen, und gleichzeitig werden künstliche Intelligenzen immer besser im Entwickeln von Spielen. Und vor einigen Monaten gründete sich der Verein GAME:IN, um auf den Sexismus in der deutschen Branche aufmerksam zu machen. Vielleicht wiederholt sich hier Geschichte: Mit einer ähnlichen Initiative hatten die Arbeitskämpfe in den USA begonnen.

Titelbild: Allen J. Schaben / Los Angeles Times/Polari/laif

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.