Thema – Märkte

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Das regelt der Markt – oder?

Der Neoliberalismus wandert immer wieder durch Schlagzeilen und Debatten. Was ist damit eigentlich gemeint? Kleine Geschichtsstunde eines Begriffs

Neoliberalismus

Ob die Wirtschaftspolitik der Ampelregierung, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz oder das Parteiprogramm der AfD – sie alle wurden schon als neoliberal bezeichnet. Doch was heißt das eigentlich, Neoliberalismus? 

Stichwort Liberalismus

Neben dem Wirtschaftsliberalismus, um den es in diesem Text geht, gibt es noch den politischen Liberalismus, der bestrebt ist, dass der Staat die Freiheit des Einzelnen so wenig wie möglich begrenzen sollte – nur dort, wo ansonsten die Freiheit anderer bedroht wäre. Mehr dazu könnt ihr hier lesen.

„Neo“, das bedeutet neu. „Liberalis“ bedeutet freiheitlich. Und Liberalismus, das ist im wirtschaftlichen Sinne die Idee, dass Märkte frei sind und sich selbst regulieren. Der Staat soll möglichst wenig Vorschriften und Vorgaben machen, zum Beispiel zum Arbeitsrecht oder Umweltschutz. 

Der radikalen Version dieser Idee zufolge braucht der Staat keine Sozialhilfe zu zahlen oder kostenlose Universitäten bereitzustellen. Der gesellschaftliche Wohlstand soll viel mehr durch freien Wettbewerb und Privateigentum geschaffen werden.

Im 19. Jahrhundert ist diese radikale Auslegung des Liberalismus, der sogenannte Manchester-Liberalismus (oder laissez-faire-Liberalismus), weit verbreitet. Doch sie verliert an Bedeutung, unter anderem, weil die wachsende Zahl der Fabrikarbeiter sich in Gewerkschaften organisiert und Rechte wie ein Verbot der Kinderarbeit oder die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung erkämpft.

Durch die große Weltwirtschaftskrise von 1929 gerät der Liberalismus noch weiter unter Druck. Der britische Ökonom John Maynard Keynes schlägt vor, in Krisenzeiten massive Staatsausgaben zu tätigen, um den Konsum anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Das kann der Staat machen, indem er selbst als Auftraggeber Jobs schafft und zum Beispiel Straßen bauen lässt oder indem er Löhne übernimmt, obwohl Menschen weniger arbeiten (heute heißt das Kurzarbeitergeld).  In den USA setzt Präsident Franklin D. Roosevelt ab 1932/33 mit dem „New Deal“ ein wirtschafts- und sozialpolitisches Reformprogramm um, das teils erheblich in den Markt eingreift. Gleichzeitig gibt es Anfang der 1930er-Jahre in Europa immer mehr Diktaturen, in Deutschland (Hitler), Italien (Mussolini), der Sowjetunion (Stalin) oder auch Spanien (Franco), die ebenfalls eher auf eine staatliche Lenkung der Wirtschaft setzen.

Ein bisschen Staat muss sein

Eine kleine Gruppe von liberalen Denkern fragt sich deshalb, was sie tun kann, um den Liberalismus wiederzubeleben – zur Überwindung des Totalitarismus und um den Keynesianismus einzudämmen, oder gar sozialistische Ideen. Diese Gruppe trifft sich 1938 in Paris und entwickelt die Idee eines neuen Liberalismus – der Begriff „Neoliberalismus“ ist geboren. Dessen Idee: Der Staat soll sich nicht mehr komplett aus der Wirtschaft raushalten, sondern einen gewissen Rahmen geben. Man ist sich unter anderem einig, dass der Staat aktiv den Wettbewerb fördern soll. Das Ziel ist, Wohlstand und unternehmerische wie individuelle Freiheit zu schaffen und gleichzeitig aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu lernen und Massenarbeitslosigkeit und damit einhergehendes Leid zu verhindern.

Dann bricht der Zweite Weltkrieg aus, der Kontakt der Gruppe verläuft sich. Doch nach dem Krieg, 1947, wird die Idee des Neoliberalismus bei einem Treffen in der Nähe des Schweizer Berges Mont Pèlerin noch mal aufgegriffen und weiterentwickelt – mit einem dringlichen Tonfall. In der Abschlusserklärung heißt es: „Die zentralen Werte der Zivilisation sind in Gefahr.“ Denn für den Gründervater Friedrich August von Hayek führen wirtschaftliche Eingriffe durch den Staat auf lange Sicht in die Diktatur. Es brauche den neuen Liberalismus, um die individuelle Freiheit zu retten, so die Position der Teilnehmenden. Die Mont Pèlerin Society (MPS) gilt als das entscheidende Denkkollektiv, das die neoliberale Idee prägte und verbreitete. Hayek gilt bis heute als eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung des Neoliberalismus.

Doch nur weil eine Gruppe von Menschen überzeugt von einer Idee ist, setzt sich diese noch lange nicht in der Politik und der breiten Gesellschaft durch. Bis in die 1960er- und 1970er-Jahre dominieren in den USA und großen Teilen Europas noch die Ideen von Keynes und spiegeln sich auch in der Wirtschaftspolitik der Regierungen wider: Die Nachkriegszeit war in vielen europäischen Ländern geprägt von starken Sozialstaaten und einer engen Einbindung von Gewerkschaften in die Politik.

Der Dreiklang neoliberaler Politikinstrumente

Dies ändert sich in den 1970er-Jahren, als in vielen westlichen Industriestaaten die Inflation steigt und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum sinkt. Verantwortlich dafür gemacht wird die keynesianische Politik – und nun öffnet sich das Möglichkeitsfenster des Neoliberalismus. 1979 wird Margaret Thatcher britische Premierministerin, kurz zuvor übernahm Deng Xiaoping die Führung der Kommunistischen Partei in China, und 1980 gewinnt Ronald Reagan die Wahl zum US-Präsidenten. Xiaoping, Thatcher und Reagan fördern in ihren Ländern Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung – was man als den Dreiklang neoliberaler Politikinstrumente bezeichnen kann.

In China war der Bruch am heftigsten. Bis 1978 kontrollierte die Kommunistische Partei die Produktion in den Fabriken, bestimmte die Preise und teilte die Arbeitsplätze zu. Mit Xiaoping beginnt eine Liberalisierung der Industrie und des Handels: In einer liberalisierten Wirtschaft bestimmt nicht der Staat die Preise, sondern die Unternehmen selbst bzw. der Markt über Angebot und Nachfrage. Außerdem wird die Wirtschaft Schritt für Schritt geöffnet und der Handel mit anderen Ländern ermöglicht, Zölle werden reduziert oder abgeschafft.

Die Liberalisierung der Wirtschaft geht oftmals mit der Privatisierung einher. Beispielsweise wurden in Großbritannien seit 1984 zuvor staatliche Unternehmen wie British Telecom, British Gas, British Airways und British Steel verkauft und damit privatisiert. Nach neoliberaler Vorstellung wird Wohlstand durch private Unternehmen erlangt, die im Wettbewerb zueinander stehen.

Deshalb soll der Staat auch möglichst wenige Regeln, etwa in Bezug auf Arbeitsrechte oder Umweltschutz, festlegen – das ist die Deregulierung. Zusätzlich wurden Gewerkschaften in den USA und Großbritannien stark bekämpft. Zum Symbol wurde der lange Kampf zwischen den Bergarbeitern und Margaret Thatcher in Großbritannien. Die Gewerkschaften verloren schlussendlich an Einfluss.

Weniger Steuern, weniger Sozialausgaben

Die privaten Unternehmen und die Bevölkerung sollen nach neoliberaler Vorstellung möglichst wenig durch Steuern belastet werden. In seiner Amtszeit senkt Reagan den Spitzensteuersatz in den USA um mehr als die Hälfte. Gleichzeitig werden im Sozialstaatsbereich starke Kürzungen durchgesetzt, die zum Teil mit rassistischen Stigmatisierungen begründet werden – die Rhetorik Reagans richtet sich vor allem gegen alleinerziehende Schwarze Frauen.

In den 1990er-Jahren wird es zum Anliegen der Neoliberalen, einen supranationalen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, also einen Rahmen über nationale Grenzen hinweg. Dieser soll Privateigentum vor demokratischen Entscheidungen und Umverteilung schützen. Dieses Mal ergibt sich das Möglichkeitsfenster aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Das Scheitern des real existierenden Sozialismus – der besonders viel Staatslenkung und wenig freie Märkte als Ideal hatte – wirkt wie ein Signal, dass der marktfreundliche Neoliberalismus der richtige Weg sein müsse.

1995 wird die Welthandelsorganisation (WTO) gegründet. Die WTO ist eine internationale Organisation, die Regeln für den globalen Handel festlegt. Ihr Ideal ist es, einen freien internationalen Markt über Grenzen hinweg zu schaffen, an dem alle Länder nach den gleichen Spielregeln teilnehmen können. Handelsschranken wie Zölle oder Subventionen sollen abgebaut werden, um globalen Wettbewerb zu fördern. Doch das Problem ist: Die WTO schafft damit einen rechtlichen Rahmen, der ökonomische Ziele verankert und dabei unabhängig von demokratischen Entscheidungen der Bevölkerung ist. Die WTO kann als Symbol der zentralen neoliberalen Idee gesehen werden.

Die Befürworterinnen und Befürworter argumentieren, dass die neoliberalen Reformen der Weltwirtschaft ab den 1980ern einen immensen Wachstumsschub verschafft hätten. Ihrer Auffassung nach seien die Entscheidungen von Unternehmen und Individuen viel effizienter und besser informiert als Staaten. Doch gibt es dagegen auch einen großen zivilgesellschaftlichen Widerstand. 1999 gehen Zehntausende Globalisierungskritiker auf die Straße, und die WTO-Konferenz in Seattle muss aufgrund der Proteste abgesagt werden. 

Auch Deutschland macht neoliberale Politik

 

Trotzdem sind die 2000er-Jahre geprägt von Regierungen, die neoliberale Politik umsetzen. In Deutschland wird in dieser Zeit ein großes Reformpaket mit dem Titel „Agenda 2010“ umgesetzt, um die damals hohen Arbeitslosenzahlen zu senken – wobei eine Maßnahme ist, Unternehmen steuerlich zu entlasten. Tatsächlich sinken die Arbeitslosenzahlen in der Folge, allerdings geht mit der Agenda 2010 auch ein Anstieg unsicherer und schlecht bezahlter Arbeitsverhältnisse einher. Zudem stehen niedrige Regelsätze und strenge Sanktionen für Arbeitslose in der Kritik.

Auch die aktuell im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse kann als ein neoliberales Politikinstrument verstanden werden. Sie ist ein gesetzlicher wirtschaftspolitischer Rahmen, der nur mit großem Aufwand demokratisch veränderbar ist und die Politik zu weniger Ausgaben lenkt.

Der Neoliberalismus startet in den 1930er-Jahren. Ende der 1970er ist neoliberales Denken in der Politik und Gesellschaft angekommen. Eine weltumspannende wirtschaftspolitische Denkrichtung, in der Freiheit vor allem die Freiheit des Privateigentums bedeutet. Jede und jeder ist Teil eines Wettbewerbssystems. Der Staat soll nach neoliberaler Vorstellung kein fürsorglicher, kein Wohlfahrtsstaat sein und ist kein guter Unternehmer – Schulen, Wohnraum, Krankenhäuser werden privatisiert.

Doch in der Krise wird der Staat sehr wohl zu Hilfe gerufen. Sei es in der Finanzkrise 2008/2009 oder bei den Staatshilfen während der Corona-Pandemie 2020/2021. Es braucht den Staat im Neoliberalismus, um den Markt, den Wettbewerb und das Privateigentum zu schützen. Bis heute.

Illustration: Bureau Chateau / Jannis Pätzold

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