Als Kamala Harris den Satz ausspricht, auf den alle gewartet haben, bricht das Publikum in lautstarken Jubel aus: „Im Namen aller, deren Geschichten nur in dem großartigsten Land der Welt geschrieben werden können: Ich nehme eure Nominierung, Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden, an.“ Schon zu Beginn von Harris’ Rede beim Parteitag der Demokratischen Partei in Chicago hatte die aktuelle Vizepräsidentin der USA Schwierigkeiten, die Menge, die einfach nicht aufhören wollte, ihr zuzujubeln, zum Schweigen zu bringen. Und das, obwohl bis vor kurzem noch Joe Biden zur Wahl stand. Dieser Parteitag sollte eigentlich sein großer Auftritt werden, jetzt versetzt Harris die Partei in Euphorie.
Die Harris-Meme-Maschine läuft auf Hochtouren
Harris scheint aktuell gegen den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump eine realistische Chance zu haben. Dabei wurde ihre Arbeit als Vizepräsidentin von vielen politischen Beobachter:innen bisher als enttäuschend eingeschätzt. Und dass sie nun die designierte Präsidentschaftskandidatin der Demokrat:innen ist, hat sie vor allem der Tatsache zu verdanken, dass Biden nach dem katastrophalen TV-Duell mit Donald Trump von parteiinternen Kritiker:innen dazu gedrängt wurde, auf eine erneute Kandidatur zu verzichten. Doch seit Harris Ende Juli den Staffelstab von Biden übernommen hat, zieht sie mit einer Wucht nach vorne, die Trump älter aussehen lässt als seine 78 Jahre. Einige Umfragen sehen Harris zum Zeitpunkt des Parteitags mit einem knappen Vorsprung vorn, Rekordspenden sind eingetrudelt, Zehntausende neue Wahlkampfhelfer:innen haben sich angemeldet.
Besonders bei den jungen Menschen scheint Harris gut anzukommen: Laut einer Umfrage von Ende Juli hätten, wenn die Wahl zu diesem Zeitpunkt stattgefunden hätte, 56 Prozent der 18- bis 29-Jährigen für Harris gestimmt und nur 38 Prozent für Trump. Einen knappen Monat vorher, als Biden noch gegen Trump antrat, lag Trump in dieser Altersgruppe vorne.
Auch die Meme-Maschine läuft auf Hochtouren: Harris sei brat, schrieb die Sängerin Charli XCX auf X in Anspielung auf ihr aktuelles Album. Ihre Fans posten Kokosnuss-Emojis in ihren Timelines. Damit spielen sie auf eine Rede von Harris über ihre Mutter an, die ihr einmal sagte, dass man in einen Kontext hineingeboren werde und nicht einfach wie eine Kokosnuss aus einer Palme falle. Doch wie nachhaltig ist der Hype um Harris? Wird er bis zu den US-Wahlen am 5. November anhalten? Wir haben mit jungen Wähler:innen rund um den Parteitag über Kamala Harris gesprochen.
„Ich würde eher für einen Hund stimmen“, sagt Martina, 19 Jahre alt, aus Naperville, einem Vorort von Chicago. Sie ist mit drei Freunden für den demokratischen Parteitag ins Stadtzentrum gekommen, „um ein bisschen Drama“ mitzunehmen. Bisher finden sie die Stimmung aber enttäuschend ruhig, deswegen machen die vier Freund:innen Selfies vor Chicagos Wahrzeichen „The Bean“, einer spiegelnden Kunstinstallation im Millennium-Park. Warum kommt der Harris-Schnellzug nicht bei ihnen an?
Auch in diesem Wahlkampf gibt es Fake News und Desinformation
„Es ist so repetitiv“, sagt Martina über den Social-Media-Auftritt von Harris. Grundsätzlich tauchten immer wieder dieselben Politiker:innen auf, von denen einige „so alt wie das Farbfernsehen“ seien. „Es fühlt sich für mich so an, als würde ich Rechte verlieren“, fügt sie hinzu. Seit der Oberste Gerichtshof 2022 das Urteil Roe vs. Wade aufhob, sind Schwangerschaftsabbrüche in vielen Staaten der USA de facto verboten. Harris hat sich wiederholt für Frauenrechte ausgesprochen. Martina ist skeptisch: „Ich höre so viele Gerüchte über sie.“ Sie setze sich nicht für Abtreibung ein und sei ohnehin crazy, so Martina. Das zu betonen wird auch Donald Trump nicht müde. Auch in diesem Wahlkampf sind Fake News und Desinformation eine Methode, die bei einigen Menschen funktioniert. Dass sich Harris als Vizepräsidentin für die Finanzierung von Abtreibungen durch die Krankenversicherung für Menschen mit wenig Einkommen einsetzte, ist den vier nicht bekannt. Sie scheinen noch kein klares Bild davon zu haben, wofür Harris eigentlich steht.
Kamala Harris wurde 1964 in Oakland, Kalifornien, als Tochter einer indischen Medizinerin und eines schwarzen Wirtschaftswissenschaftlers aus Jamaika geboren. Harris studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften an einer historisch afroamerikanischen Universität in Washington, D.C., und später Jura in San Francisco. Danach arbeitete sie als Staatsanwältin, wurde 2016 für die Demokrat:innen in den Senat gewählt und ist seit 2021 Vizepräsidentin unter Joe Biden.
Ein Studium wie das von Harris ist etwas, wovon die vier Freund:innen vor der spiegelnden Bohne nur träumen können. Martina überlegt, nach Polen zu ziehen, wo ihre Eltern herkommen, weil das Leben dort günstiger und die Studiengebühren „zumutbar“ seien. Alle Vier wollen eigentlich zu Hause ausziehen, aber ihnen fehle das Geld. Viele ihrer Freund:innen kämen nur mit zwei oder mehr Jobs über die Runden – eine Situation, die für zahlreiche Amerikaner:innen Alltag ist. Etwa 11,5 Prozent von ihnen leben in Armut. Das sind fast 38 Millionen Menschen. Die Inflation hat innerhalb kürzester Zeit die Lebenshaltungskosten steigen lassen. Harris hat angekündigt, sie senken zu wollen und die wirtschaftliche Stabilität von Mittelklassefamilien zu sichern. Sie inszeniert sich selbst im Gegensatz zu Donald Trump als „hard working“, erzählt, dass sie sich in ihrer Collegezeit bei McDonald’s Geld verdient habe. Wie Harris ihr Wirtschaftsprogramm finanzieren möchte, ist noch nicht bekannt.
Bei Martina und ihren Freund:innen kommen ihre Vorschläge nicht an. Unter Trump sei das Benzin günstiger gewesen und die Inflation nicht so hoch, erinnert sich der 19-jährige John. „Trump ist kein Politiker, sondern ein Businessmann“, sagt er. Der verstehe eben Wirtschaft. Unter dem amtierenden Präsidenten Joe Biden hat sich die Wirtschaft stabil entwickelt. Das scheint sich im Leben der vier nicht bemerkbar zu machen.
Rund um den Parteitag demonstrieren Tausende
Armut ist beim Parteitag der Demokratischen Partei kein großes Thema. Er findet im United Center im Herzen Chicagos statt, und genau so wollen sich die Demokrat:innen auch zeigen: geschlossen und geeint hinter ihrer Kandidatin Kamala Harris. Doch unweit des Parteitages demonstrieren Tausende. Einer von ihnen ist Angel Naranjo, ein 19-jähriger Geschichtsstudent aus Little Village, einer Gegend in Chicago, in der viele südamerikanische Migrant:innen leben. Naranjos Mutter kam in den 1990er-Jahren aus Mexiko, hat ihn alleine großgezogen und lebt bis heute ohne Aufenthaltspapiere in den USA. Menschen wie Naranjo, die aus armen Verhältnissen kommen, galten lange Zeit als Stammklientel der Demokrat:innen.
Naranjo aber will im November nicht für Harris stimmen. Er ist Teil der Organisation „New Students for a Democratic Society“. Mit ihr setzt er sich für die Beendigung des Krieges in Gaza ein. Er verurteilt Joe Biden und Kamala Harris dafür, dass sie Israel mit Waffen und Geld unterstützen; Ressourcen, die Naranjo lieber in Bildung und Gesundheit investiert sehen würde. Damit ist er nicht allein. Der Krieg in Gaza bringt viele Menschen auf die Straße, die normalerweise für die Demokratische Partei stimmen würden, unter ihnen viele arabische und muslimische Wähler:innen und viele junge Menschen, die sich als progressiv verstehen. Während der Proteste kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei, am Ende der vier Tage werden insgesamt 74 Protestierende verhaftet. Doch die Polizei zieht insgesamt eine positive Bilanz: Im Großteil seien die Proteste friedlich verlaufen.
Dass Naranjo als Sohn einer Immigrantin Gemeinsamkeiten mit Harris habe, findet er nicht relevant. „Sie nimmt die Stimmen von braunen und schwarzen Menschen, ohne etwas für sie zu tun“, sagt er. „Repräsentation ist irreführend.“ Die Frage, ob es ihm und seinen Freund:innen unter Trump schlechter gehen könnte, treibt ihn nicht um. „Wie viel schlechter kann es noch werden?“ Naranjos Protest und der seiner Mitstreiter:innen zeigt auch, dass das Zwei-Parteien-System der USA immer stärker infrage gestellt wird. Auf ihren Plakaten stehen Sprüche wie „Wir brauchen eine neue Partei, keinen neuen Demokraten“.
Das Kamala-is-Brat-Lager
Ein paar Kilometer weiter nördlich, in einer Gegend, die nur „Boystown“ genannt wird, sammeln sich die hartgesottenen Harris-Fans. In einer Gaybar macht sich ein bärtiger Showmaster mit brat-grüner Sonnenbrille fertig für das große Charli XCX/Kamala-Brat-Summer Quiz. Das Event ist Teil eines Rahmenprogramms des Parteitages. An den Wänden der Bar hängen Poster von Harris mit dem Schriftzug „Power to the People“, die an Barack Obamas Kampagne erinnern, die ihn 2008 ins Weiße Haus brachte.
Das Kalkül der Demokrat:innen, ihre Kandidatin popkulturell anzubinden, scheint auch hier aufzugehen. Zwei junge Frauen tragen Freundschaftsarmbänder mit „Momala“, wie Harris von ihren Stiefkindern genannt wird. „Wir lieben Kamala“, kreischen sie, „sie ist total brat.“ Suzanna und John, 28 und 38 Jahre alt, sind dagegen pragmatischer: „Es ist 2024, es ist Zeit für eine Frau im Präsidentenamt“, sagt Suzanna. Außerdem seien ihr Frauenrechte wichtig, deswegen gebe es keine Alternative zu Harris. Wirklich inhaltlich überzeugte und begeisterte Anhänger:innen sind die beiden nicht. Suzanna ist wütend über die Alternativlosigkeit bei der anstehenden Wahl, und vor allem John hat noch Zweifel, ob Harris wirklich tun wird, was sie ankündigt. Als queere Person sei der Fall für ihn aber klar: „Ich wähle lieber jemanden, der will, dass ich existiere.“