James Malcolm rennt fast über das holprige Kopfsteinpflaster, er zeigt auf ein Gebäude nach dem anderen. „Der Supermarkt an der Ecke, die Bäckerei, sogar der Friseur – alle nehmen nur Bitcoin!“, sagt er. Die Stadt, das ist Berlín. Aber nicht das deutsche Berlin, sondern das in den Bergen von El Salvador, am Fuße des Tecapa-Vulkans. Malcom ist aus Neuseeland hierhergezogen. Gemeinsam mit 15 weiteren Auswander:innen aus Mexiko, Irland oder den USA hat er mehr als 100 Geschäfte in Berlín davon überzeugt, Bitcoins als Zahlungsmittel zu akzeptieren.
Malcolm, schütteres blondes Haar, dunkle Ringe unter den Augen, erreicht den Hauptplatz der Kleinstadt mit 12.000 Einwohner:innen. Ein Park mit Bänken und Straßenständen, die gefüllte Maisfladen namens Pupusa verkaufen, das Nationalgericht El Salvadors. Malcolm geht zu einem Fruchtsaftstand, bestellt „den Grünen“, zückt sein Handy und bezahlt per App. QR-Code scannen, fertig. 0,000019 Bitcoin, zu dem Zeitpunkt umgerechnet rund 1,10 Dollar.
„Ist das nicht fantastisch?“, fragt Malcolm und grinst.
El Salvador, ein kleines Land in Zentralamerika, startete im Juni 2021 ein Experiment. Präsident Nayib Bukele wandte sich per Video an die 12.000 Besucher:innen einer Bitcoin-Konferenz in Miami und verkündete: El Salvador werde das erste Land der Welt, das den Bitcoin als offizielles Zahlungsmittel einführt. Steuern oder Löhne, aber auch private Einkäufe oder Restaurantbesuche – alles solle fortan mit der Kryptowährung bezahlt werden können. Bukele behauptete, damit die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, ausländische Investitionen zu sichern und den im Ausland lebenden Salvadorianer:innen zu ermöglichen, ihren Verwandten Geld zu überweisen, ohne dafür horrende Gebühren zahlen zu müssen.
Es wurde vom Staat ein digitales „Wallet“ – eine App namens „Chivo“ – eingerichtet, in der Bitcoins gespeichert werden können. Jede:r Bürger:in erhielt ein Bitcoin-Startguthaben in Höhe von umgerechnet 30 Dollar. Im ganzen Land wurden Bitcoin-Bankomaten installiert, die funktionieren wie normale Bankomaten: Wallet aufrufen, Bargeld einzahlen, Bitcoin erhalten oder vom Bitcoin-Wallet Dollar abheben.
Bukele, dessen autoritärer Führungsstil sehr umstritten ist und der sich selbst auch schon als den „coolsten Diktator der Welt“ bezeichnete, gelang damit ein Coup. Zuvor war sein Land höchstens für seine Armut und Gang-Kriminalität bekannt. Expats, die ihr Heimatland länger verlassen, um im Ausland zu arbeiten, und Tourist:innen machten einen großen Bogen um das Land. Doch plötzlich verwandelte sich El Salvador in ein Paradies für Krypto-Bros aus aller Welt. Bukele änderte sein Profilbild auf X, aus seinen Augen schossen fortan für einige Zeit Laserstrahlen. Ein Zeichen in der Kryptoszene: Bukele war von nun an ein Bitcoiner.
Das war vor drei Jahren. 2024 ist Bukele für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden, seine Popularität ist ungebrochen. Hat sich das Bitcoin-Experiment gelohnt?
Fragt man James Malcolm, ist die Antwort eindeutig: Ja. Im Dezember 2021 haben er und seine Frau beschlossen, Neuseeland zu verlassen und nach El Salvador zu ziehen. Als IT-Berater kann er von überall auf der Welt arbeiten. Im Internet lasen die Malcolms, dass El Salvador gerade Bitcoin als offizielle Währung eingeführt hatte. Sie entschieden sich zunächst, dort Urlaub zu machen. Nach einigen Monaten am Strand blieben sie, zogen Ende 2023 zusammen mit anderen Expats nach Berlín und gründeten das „Bitcoin Centre Berlín“. Ein orange gestrichenes Haus im Stadtzentrum mit einem großen Bitcoin-Logo an der Wand. Im Bitcoin Centre kann man kostenlos Bitcoin-Workshops besuchen oder Englischkurse belegen.
Anfangs sei es schwierig gewesen, die lokale Bevölkerung von Bitcoins zu überzeugen, erzählt Malcolm, während er an seinem Fruchtsaft nippt. Eine Weile kamen dann immer mehr Leute ins Bitcoin-Zentrum und fragten, ob sie nicht die Bitcoin-App installieren können. Doch mittlerweile zeigen Studien, dass die lokale Bevölkerung die App kaum nutzt. 77 Prozent halten die Einführung des Bitcoins gar für einen Fehlschlag. Spricht man mit den Besitzer:innen der Geschäfte, die Bitcoin akzeptieren, heißt es meist: Dass man hier mit Bitcoin bezahlen könne, würde die Kund:innen freuen. Also die Tourist:innen.
Wo der Bitcoin boomt, wird das Leben teurer
Wenn in einem lokalen Wirtschaftssystem wie Berlín die lokale Währung zunehmend durch die zusätzliche Bitcoin-Währung ergänzt oder verdrängt wird, heißt das „Bitcoin Circular Economy“. Über 30 davon gibt es bereits weltweit. Etwa auf den Philippinen oder in Südafrika. In El Salvador, eigentlich kein klassisches Urlaubsland, sollen so zum Beispiel Tourist:innen angelockt werden, die wiederum mehr Bitcoins in den Kreislauf einspeisen. Berlín als ein kleines Krypto-Disneyland.
Lorena Valle Cuéllar seufzt, wenn man sie nach Bitcoins fragt. Die Ökonomin arbeitete bis zum Sommer 2024 an der Universität UCA in der Hauptstadt San Salvador. „Bitcoin ist nur eine Fassade. Sie soll davon ablenken, dass Bukeles Wirtschaftspolitik krachend gescheitert ist.“ Von Projekten wie in Berlín hält sie nicht viel: „Sie führen dazu, dass die Immobilienpreise in der Region rasant steigen und sich die Einheimischen das Leben dort nicht mehr leisten können.“ Alles werde teurer, weil US-Amerikaner:innen oder Europäer:innen bereit seien, viel höhere Preise für Wohnen oder Essen zu bezahlen.
Tatsächlich hat El Salvador die geringsten ausländischen Investitionen und das geringste Wirtschaftswachstum aller zentralamerikanischen Länder. Der Staat ist so verschuldet wie lange nicht mehr. Laut einer Studie von Ende 2022 stehen 14 Prozent der Bevölkerung, rund 900.000 Menschen, am Rande einer Hungersnot. Und der Internationale Währungsfonds (IWF) verweigert dem Land Milliarden Dollar, weil er El Salvadors Bitcoin-Pläne für bedenklich hält. Allerdings finden mittlerweile wieder Gespräche zwischen Bukele und dem IWF statt. „Expats oder Tourist:innen halten El Salvador dank des Bitcoin trotzdem für das neue Technologie-Mekka“, sagt Ökonomin Valle Cuéllar. Wieder seufzt sie: „Marketing ist alles.“
Bukeles Wirtschaftspolitik bestehe darin, Bitcoin eingeführt zu haben, sagt Valle Cuéllar. Aber viele andere Salvadorianer:innen haben davon nichts, im Gegenteil: Vielen Menschen im Land gehe es schlechter.
Wer wissen will, wovon Lorena Valle Cuéllar spricht, muss nur in das 50 Kilometer von Berlín entfernte Dorf Rancho Grande am Rio Lempa fahren. Die Straßen hier sind nicht geteert, im Dorf gibt es außer Kindern auf alten Fahrrädern kaum Verkehr und bloß einen winzigen Laden, in dem vor allem Chips und Cola verkauft werden. Rund 200 Menschen leben in Rancho Grande, die meisten haben sich als landwirtschaftliche Kooperative zusammengeschlossen, um Bananen und Zuckerrohr anzubauen.
Inflation und staatliche Repressionen machen den Menschen in El Salvador zu schaffen
Umberto Gomez, 31 Jahre alt, ist einer von ihnen. Auf einem BMX-Fahrrad fährt er vor, über die staubige Straße und hinein in ein Dickicht aus Tausenden von Bananenstauden, um seine Felder zu zeigen. „Seit Bukele an der Macht ist, geht es uns immer schlechter“, sagt Gomez, als er im Schatten einer Staude anhält. Sie finden keine Arbeiter mehr. Der Betrieb könne kaum aufrechterhalten werden, weil fast ein Viertel der Männer verhaftet wurde. Er und die Verbliebenen müssen deshalb oft Doppelschichten schieben.
In den vergangenen zwei Jahren wurden in El Salvador über 75.000 Menschen als Bandenmitglieder verhaftet. Zu Bukeles propagierten Zielen gehört, die Bandenkriminalität zu bekämpfen, die schon zu zahlreichen Toten geführt hat und auch ein großes Problem in El Salvador ist. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind dabei aber auch Tausende Unschuldige inhaftiert worden. Das hat dazu geführt, dass in vielen Familien der Alleinverdiener weggefallen ist. Die Zurückgebliebenen müssten mit 100 Dollar im Monat für die Verhafteten im Gefängnis aufkommen, erklärten die Familienangehörigen der Inhaftieren im Gespräch. Die meisten Familien verdienen laut Lorena Valle Cuéllar monatlich nur rund 150 Dollar.
Hinzu komme eine Preissteigerung bei Nahrungsmitteln: Für Zwiebeln und Tomaten auf dem Markt müsse man doppelt so viel bezahlen wie noch vor ein paar Jahren, sagt Umberto Gomez. „Meine Familie und viele andere, die ich kenne, essen nur noch einmal am Tag.“ Meist Tortillas und Bohnen. Für mehr reicht das Geld nicht.
Gomez sagt, er und alle, die er kennt, haben die App heruntergeladen, sich die 30 Dollar Startguthaben in Dollar auszahlen lassen und die App wieder gelöscht oder nicht mehr benutzt. „Wir haben andere Probleme“, sagt er. Tourist:innen, die mit der Bitcoin-App bezahlen wollen, kommen sowieso nicht nach Rancho Grande.
Titelbild: Juan Carlos / IMAGO / ZUMA Press