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Herz über Kopf

Über die Liebe grübeln Menschen schon immer. Erst recht die, die von Beruf grübeln. Ein liebevoller Streifzug durch die Philosophiegeschichte

Herz über Kopf

Das Kopfzerbrechen über die Liebe beginnt mit einem Kater. Ein Haufen Athener hat es ordentlich krachen lassen am Vortag, und was macht so eine Truppe, wenn der Schädel dröhnt und der Magen rumort? Kontern! So treffen sich in Platons fiktivem „Gastmahl“, dem wohl wichtigsten philosophischen Text über die Liebe, ein paar Kumpels zu Speis und Trank im Haus des Dichters Agathon. Und beginnen ein Gespräch über das höchste der Gefühle: Jeder soll eine Lobrede auf den Liebesgott Eros halten.

Einfluss haben vor allem zwei dieser Reden: die von Aristophanes und die von Platons Lehrer Sokrates. Aristophanes ist Komödiendichter, er setzt den sogenannten Kugelmenschenmythos in die Welt: Früher, meint er, waren die Menschen rundliche Wesen, die sich mit vier Armen und vier Beinen Rad schlagend durch die Welt bewegten. Bis es Zeus zu bunt wurde, er sie in der Mitte durchschnitt und ihnen so die heutige Form verlieh. Seither suchen die Menschen, unterstützt von Eros, nach ihrer verlorenen Hälfte. Die schon bei Aristophanes durchaus demselben Geschlecht angehören kann.

Bei Sokrates ist die Liebe das Streben nach dem Schönen – auch jenseits körperlicher Attraktivität

Die bessere Hälfte, jeder Topf findet seinen Deckel, du wirst schon noch den Richtigen finden: Aristophanes’ Vorstellung der füreinander bestimmten Teile steckt bis heute in unseren Köpfen. Und in jeder Hollywoodromanze. Sokrates’ Ideen taugen weniger zum Blockbuster: In seinen Augen streben Liebende nicht nach Vervollkommnung durch eine verlorene Hälfte, sondern vielmehr nach dem absolut Schönen und Guten.

Das erkennt man meist zuerst im Körper eines anderen – und verguckt sich prompt. So weit, so gut, sagt Sokrates: Nur muss man mit der Zeit begreifen, dass die Schönheit, in die man so vernarrt ist, nicht nur diesem einen, sondern allen Körpern innewohnt. Bis sich der Mensch in seinem Streben nach dem Schönen ganz von Körpern abwendet und stattdessen die Menschen wegen der Schönheit ihrer Seelen liebt, die höheren Wert haben als jede körperliche Attraktivität.

Bei Sokrates gleicht die Liebe einer Leiter, die Stufe für Stufe zur Erkenntnis führt. Ganz oben erkennen und verstehen die Menschen das Wesen der Schönheit an sich, worin auch immer sie sich zeigt. Und Liebende streben danach, selbst Schönes zu erschaffen: auf körperlicher Ebene durch Nachwuchs, auf höheren Ebenen etwa als Dichter oder als Staatsmann, der Gerechtigkeit schafft.

Platons „Gastmahl“ ist Philosophiegeschichte, passt aber nicht mehr ganz zu dem, was sich über Jahrhunderte entwickelte und heute platonische Liebe genannt wird: Beziehungen, in denen Sex keine Rolle spielt. Die klingen eher nach Platons Schüler Aristoteles, der sich lieber mit freundschaftlicher statt leidenschaftlicher Liebe befasste, mit philia statt eros, wie es bei den Griechen hieß. Die wahre philia zeichnet für Aristoteles aus, dass man anderen Gutes wünscht, unabhängig von den eigenen Interessen. Sie ist auch die Kraft, die Gemeinschaften wie Familien, Dörfer oder sogar Staaten zusammen- und widerständig hält.

Auch ein paar zeitgenössische Denker verstehen solches Wohlwollen als Kern der Liebe. Zum Beispiel Harry G. Frankfurt, auf den das „Care-Modell“ der Liebe zurückgeht. Ein Begriff, der so schwer übersetzbar wie vielsagend ist: Wer „caret“, dem liegt etwas am Herzen, der sorgt sich oder umsorgt das Geliebte.

Wahre Liebe gibt uns Gründe, die keiner weiteren Erklärung bedürfen, sagt Harry G. Frankfurt

Frankfurt erklärt das an der Liebe von Eltern. Schließlich sorgen die sich von Geburt an um das Wohl ihrer Kinder, pausenlos, ganz unabhängig von ihren übrigen Wünschen und unabhängig davon, ob das Kind nun klein, groß, hübsch oder schlecht in der Schule ist. Diese bedingungslose Fürsorge, das Einswerden der Interessen der geliebten Person mit den eigenen, war für Frankfurt entscheidend: Man liebt etwas nicht, weil man ihm Wert zuschreibt. Es ist genau andersherum: Was wir lieben, wird allein durch unsere Liebe wertvoll. Eltern fragen sich nicht, ob das eigene Kind die Liebe und Fürsorge wert ist, und echte Fans pilgern auch nach zwei Abstiegen noch zu ihrem Club.

Und am Ende nützt uns diese vermeintlich selbstlose Hingabe doch, dachte Frankfurt: Denn Geliebtes gibt unseren Handlungen „Endzwecke“. Unsere Entscheidungen hinterfragen wir ständig: Macht mir die nächste Party wirklich Freude, gibt mir dieser Job oder jene Freundschaft, was ich will? Wahre Liebe dagegen gibt uns Gründe, so Frankfurt, die keiner weiteren Erklärung bedürfen. Und kann so dem Leben Sinn verleihen.

Für die christlichen Geistesgrößen im Mittelalter war natürlich Gott sinnstiftend. Deshalb gibt es neben philia, der Freundesliebe, und eros, der romantischen Liebe, noch einen wichtigen Liebesbegriff: agape entspricht der barmherzigen Liebe Gottes zu den Menschen. Augustinus, ein christlicher Vordenker mit Platon-Faible, versuchte, das mit den Ideen der damals noch nicht ganz so alten Griechen zu vereinbaren: Auch er versteht Liebe als Suche nach Höherem und Gutem – das man letztlich in Gott findet.

Trotzdem wurde der Mann nicht nur von keuschen Bischöfen gelesen: Hannah Arendt promovierte sogar zu Augustinus’ Liebesbegriff. Später prägte die politische Theoretikerin den Begriff amor mundi – die Liebe zur Welt. Aus dieser Weltliebe ergibt sich für sie eine Verpflichtung, die Welt zu gestalten; auch oder gerade dann, wenn die Liebe angesichts von Krieg und Ungerechtigkeit schwerfällt.

Der Kapitalismus, schreibt Eva Illouz, verändert unseren Blick auf Liebe, Gefühle und Sex

Die US-Philosophin Martha Nussbaum geht noch etwas weiter und fordert: Mehr Herz in der Politik! Sie glaubt, unsere Gefühle seien wesentlich von kulturellen Normen und persönlichen Überzeugungen abhängig. Was wiederum heißt: Man kann Einfluss auf sie nehmen. Deshalb gehörten Liebe und Mitgefühl auch in die Politik: Ein liberaler Staat sollte die Ausbildung dieser Gefühle aktiv fördern, findet Nussbaum. Sich auf die rationalen Prinzipien der Aufklärung zu berufen sei zwar gut. Dabei die emotionale Ebene zu vernachlässigen – und Autoritären zu überlassen –, sei jedoch ein Fehler. Und klar: Wer Menschen in Not hilft, tut das vermutlich, weil ihn deren Leid berührt; nicht, weil er gerade das Grundgesetz gelesen hat.

Dieser Text ist im fluter Nr. 89 „Liebe“ erschienen

Nussbaum übersieht da etwas, meint wiederum die Soziologin Eva Illouz. In liberalen Gesellschaften sei die Liebe nämlich längst allgegenwärtig: als romantisches Liebesideal. Befördert würde dessen Präsenz allerdings durch den Kapitalismus, der den meisten Menschen ermögliche, ganz unabhängig von wirtschaftlichen oder gar familiären Überlegungen zu entscheiden, mit wem sie schlafen oder liiert sein wollen. Gefühle und Sex seien dabei mitkapitalisiert worden, sagt Illouz: Was wir als romantisch oder attraktiv empfinden, prägt die kapitalistische Werbe-, Film- und Musikindustrie. Wir geben Geld für Dates aus, konsumieren Pornografie und riesige Pools an möglichen Partnern in den Dating-Apps. Das wiederum sei der Romantik abträglich: Dass der oder die Nächstbeste immer nur einen Swipe entfernt scheint, erschwere die Festlegung auf einen Partner.

So bleibe es heute oft bei Unverbindlichkeiten und Gelegenheitssex, obwohl der Traum von lebenslanger romantischer Liebe noch immer als Ideal über allem schwebt. Wobei es ganz so schlecht, wie Illouz denkt, vielleicht gar nicht steht um das klassisch-romantische Ideal: In Deutschland wird weiter munter geheiratet – und die Scheidungsrate ist heute niedriger als vor 20 Jahren.

Illustration: Simone Cihlar

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