Der Kommilitone hat endlich den „Faust“ zu Ende gelesen. Die Freundin lernt zum Unmut der Nachbarschaft Bratsche. Und der ehemaligen Kollegin fällt die Ausgangssperre in ihrem Haus auf dem Land ziemlich leicht. Scrollt man durch Instagram, scheint das Social Distancing halb so wild zu sein.
Lebt man aber mit wenig Einkommen, auf engem Raum oder vielen Menschen zusammen, ist die Kontaktsperre weniger angenehm. Sie verstärkt soziale Ungleichheit. Zu Hause kann nur bleiben, wer ein Zuhause hat. Wer muss weiter mit der Bahn zur Arbeit? Wer hat in der Wohnung Raum und Zeit, um zu lernen oder zu arbeiten? Wessen Job kann überhaupt von zu Hause erledigt werden? Und wer ermöglicht anderen das sichere Homeoffice erst – indem er sich als Babysitter, hinter Supermarktkassen und Krankenbetten, als Paketzusteller oder auf Lieferando-Fahrrädern einem höheren Infektionsrisiko aussetzt?
Wir haben drei Menschen getroffen, die sich in der Corona-Krise nicht nur um ihre Gesundheit sorgen.
„Ich gehör noch zu denen, die Glück gehabt haben“
– Celly, Schülerin
Als Celly ihre kleine Schwester in die Kita bringen möchte, steht sie vor verschlossenen Türen. Über Nacht hat die Kita geschlossen. Eltern stehen vor der Tür Schlange, ihre Kinder an den Händen. Aber nichts zu machen. Celly, 15, sei dann stattdessen mit ihrer Schwester einkaufen gegangen, erinnert sie sich auf einem Spaziergang um ihren Wohnblock in Berlin-Hellersdorf.
Die Sonne scheint, rund um die großen Wohnkomplexe ist es grün. Celly denkt an den ersten Tag einer Quarantäne, die wie so viele Familien auch ihre vor Probleme stellt. Wer kümmert sich um die Kleinen, wenn die Eltern arbeiten müssen? Wie können die Kinder weiter am Schulunterricht teilnehmen? Wie kommen wir mit dem Kurzarbeitergeld über den Monat? Wer geht einkaufen, wenn ein Teil der Familie zur Risikogruppe gehört?
Die langen Haare liegen Celly wie ein brauner Fächer über der Schulter. Sie geht in die neunte Klasse, der Unterricht kann an ihrer Gemeinschaftsschule derzeit nur online stattfinden. Celly bekommt ihre Hausaufgaben zugeschickt. „Heute gab es wieder Nachschub.“ Sie zeigt auf ihrem Smartphone die Aufgaben für den Biologieunterricht. Die Lehrerin hat ein YouTube-Video rumgeschickt, zu dem Fragen beantwortet werden sollen. Manchmal versteht Celly ein Wort nicht, erzählt sie, und googelt es dann eben. Nur in ihrem Lieblingsfach Deutsch habe sie seit der Schließung keine Aufgaben bekommen. Warum, weiß sie nicht.
Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben mehr als 96 Prozent der befragten Schüler*innen zu Hause Zugang zum Internet, 88 Prozent zu einem PC oder Laptop. Mit diesen Zahlen ist aber nicht gesagt, ob die Schüler*innen während der Corona-Wochen genug Platz und Konzentration finden – oder Eltern, die sie unterstützen und motivieren können, die für gesunde Ernährung, Bewegung und Abwechslung sorgen. Celly kümmert sich neben der Schule um ihre kleine Schwester, damit ihre Eltern arbeiten können. Trotzdem fällt es ihr nicht schwer, allein zu lernen.
Gute Schüler bleiben gut, schlechte Schüler werden zu Hause eher schlechter
So gut verkraften nicht alle die Schulschließung. Celly erzählt von Mitschüler*innen, die zu schüchtern sind, um nach Hilfe zu fragen, die nicht lernen wollen oder können. Die Eltern von Ionut zum Beispiel müssen arbeiten und sprechen kaum Deutsch. Wenn sie außer Haus sind, passt Ionut auf seinen dreijährigen Bruder auf. Sollte er den Anschluss in der Schule verlieren, können seine Eltern ihm kaum helfen. Auch Hausaufgabenhilfe oder eine Betreuung für seinen Bruder fallen weg: Ionuts Eltern haben große Angst vor dem Virus und nur wenig Möglichkeiten, sich in ihrer Muttersprache über die Risiken und Ausgangsbeschränkungen zu informieren. Aus Angst vor einer Ansteckung wollen sie niemanden in der Wohnung – und verbieten Ionut, die Wohnung zu verlassen.
Die Corona-Krise drohe, bestehende Bildungsungleichheiten weiter zu verschärfen, warnen die Autor*innen der DIW-Studie. Leistungsschwächere Kinder und solche aus schwierigen Haushalten leiden besonders, weil die Ausgangsbeschränkungen sie auch aus Sportvereinen, Jugendzentren oder Bibliotheken fernhalten, wo andere einen Blick auf die Kinder haben können. „Ich gehör noch zu denen, die Glück gehabt haben“, sagt Celly.
„Ich glaube nicht an den Nachholeffekt“
– Jules Winnfield, Gastronom
Gerade könnte alles besser laufen, aber Jules Winnfield ist zuversichtlich. Der hochgewachsene Mann, Mitte 30, steht vor seinem Restaurant in Berlin-Schöneberg und schaut die Straße runter. Seit dem 16. März ist das „Bonvivant“ geschlossen, die Küche zu, die Pfannen kalt, das Geschirr gespült. Winnfield begrüßt keine Gäste und nimmt keine Lieferungen an. Selbst die Müllabfuhr hat er abbestellt. Alles auf null fahren. Das ist seine Strategie, um die Krise zu überstehen, erklärt Winnfield bei einem Spaziergang durch den Kiez.
Rund anderthalb Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im Gaststättengewerbe. Die Krise trifft sie hart. Wenn die Restaurants nicht gerade Essen zum Mitnehmen anbieten können, bleibt ihnen nur die Schließung. Das Personal wird dann aus Not in Kurzarbeit geschickt. Darunter leiden besonders Servicekräfte, deren Lohn auch aus den Trinkgeldern besteht.
Im Vorbeigehen deutet Winnfield auf einen Brotladen, in dem er immer für das Restaurant bestellt hat, vor der Krise. Das „Bonvivant“ ist nur ein Dominostein in einer langen Kette: Setzt ein Stein aus, funktioniert die Kette nicht mehr. So trifft die Krise nicht nur Winnfield und sein Restaurant, sondern auch die Bauernhöfe oder Groß- und Feinkostmärkte in der Umgebung, denen er sonst Ware abnimmt.
Winnfields Restaurant kann überleben, wenn der Vermieter mitmacht
„Ich glaube nicht an den Nachholeffekt“, sagt Winnfield. Selbst wenn er bald wieder öffnen darf, den Verlust der vergangenen Monate werde er kaum aufholen können. Mehr als einen Abend in der Woche gehen die wenigsten aus.
Seit dem Ausbruch der Krise beginnt jeder seiner Tage mit einem Blick auf das Handy. Gibt es neue Bestimmungen, die Winnfields Situation bessern? Er steht im ständigen Austausch mit anderen Gastronom*innen, es gibt Gerüchte über weitere staatliche Hilfeleistungen. Winnfields Situation ist anders als die seiner Kolleg*innen, das „Bonvivant“ passt in kein Hilfsprogramm: Für den Corona-Zuschuss kann er sich nicht bewerben, weil er mehr als zehn Angestellte hat; für die Rettungsbeihilfe nicht, weil sein Restaurant erst knapp ein Jahr existiert und nicht genügend Jahresbilanzen vorweisen kann.
Wenn Winnfields Vermieter ihm mit der Miete entgegenkommt, werde er noch einige Monate überstehen können, ohne bankrottzugehen, schätzt er. Aber leicht werde es nicht. „Wenn das alles hier vorbei ist“, scherzt er, „findet ihr mich auf den Malediven.“
„Ich bin zuversichtlich, dass die Corona-Hilfen für alle reichen“
- Julia Kostić, Tätowiererin
Bislang gab es keinen Tag, an dem Julia Kostić aufwacht, ohne darüber nachzudenken, wie sie ihre Miete zahlen soll. Oder ihre Mahlzeiten. Oder ihre Arbeitsmaterialien. Die 24-jährige Tätowiererin hat seit dem Ausbruch der Krise nicht eine Kundin gehabt. Kostić weiß nicht, wie es weitergehen soll.
Vor acht Monaten ist sie aus ihrer Heimatstadt Belgrad nach Berlin gezogen, um in einem Studio zu lernen. Die Hauptstadt gilt als Mittelpunkt der Tattooszene, viele Tourist*innen kommen in die Stadt und verlassen sie mit einem Andenken. Kostić' Kund*innen kommen über Instagram. Dort zeigt sie ihren Stil und vereinbart Termine mit Interessierten, die fast alle aus dem Ausland kommen. Für Kostić gilt: keine Touris, keine Aufträge.
Kostić muss ihre Tattoodesigns anders vermarkten – und zwar schnell
Kurz nachdem ihr Praktikumsvertrag im Studio auslief, begann die Krise. Seitdem wartet Kostić, dass etwas passiert. „Ich glaube, wir leben gerade in einem Film“, sagt sie und streicht sich über den Arm. Der schwarze Schriftzug „Void“ ist noch leicht gerötet. „Ein Quarantäne-Tattoo“, sagt Kostić lachend. Void bedeutet soviel wie Leere oder Nichts.
Mit der Krise sanken Kostić' Einkünfte von etwa 1.200 Euro im Monat auf null. Zeitgleich stiegen ihre Lebenshaltungskosten, weil sie mit einer Freundin in eine neue Wohnung gezogen ist. Selbst wenn Kostić wollte, könnte sie gerade nicht zurück nach Belgrad: Die serbische Regierung hat die Grenzen geschlossen. „Jetzt einfach das Land zu verlassen und zu meinen Eltern zu ziehen wäre auch zu einfach.“
Kostić ist bemüht, den widrigen Umständen etwas Positives abzugewinnen. Aber ohne Einkünfte aus ihrem eigentlichen Beruf muss sie sich schnell Alternativen überlegen. Sie hat sich mittlerweile auf Plattformen wie Fiverr angemeldet, wo Kreative ihre Dienstleistungen anbieten, und versucht, ihre Tattoodesigns auf T-Shirts zu drucken.
Für die 5.000 Euro Soforthilfe der Investitionsbank Berlin kann sich Kostić nicht bewerben: Ihr Gewerbe ist noch nicht in Berlin gemeldet. Aber: „Ich bin zuversichtlich, dass das Geld für alle reichen wird“, sagt Kostić entspannt. Entgegen den Aussagen des Berliner Senats wurde die Corona-Hilfe des Landes kurz später eingestellt. Für Kostić ist es unmöglich geworden, sich während der Kontaktsperre Hilfe zu sichern. Sie lebt seit Wochen von ihrem Ersparten.
Noch immer schreiben ihr über Instagram Leute, die sich trotz der Kontaktsperre tätowieren lassen wollen. Kostić erklärt geduldig, warum das nicht geht, und versucht, die Interessierten auf einen Termin nach der Krise zu vertrösten. Wann der sein wird, weiß keiner.