„Das Land ist im Wahlmodus“, schreibt mein Kumpel Zoltán aus Budapest. „Wir reden über nichts anderes.“ Da geht es ihm wie vielen anderen Ungar:innen: Am Sonntag wählen sie ihr Parlament: 199 Abgeordnete, 106 aus den Wahlkreisen, 93 von der Landesliste und (indirekt) auch einen Ministerpräsidenten.
Das Amt hat seit 2010 Viktor Orbán inne. Dass er noch mal darum bangen muss, hielten viele für unwahrscheinlich: Während der Pandemie regierte Orbán teilweise per Dekret, also ohne Beteiligung des Parlaments. Diese Sondervollmacht endete zwar im Sommer 2020, zeitgleich wurde aber ein Gesetz über die sogenannte „medizinische Gefahrenlage“ verabschiedet: Die kann jetzt die Regierung auf Vorschlag der obersten Amtsärztin Ungarns ausrufen, jederzeit und eigenmächtig, um dann wieder ohne Parlament zu regieren. Viele Ungar:innen halten Orbán für einen Autokraten, die Opposition hält die Wahl am Sonntag für eine über das „Schicksal“ des Landes.
Dabei könnte sie dem Premier Orbán und seiner Regierungspartei Fidesz zum ersten Mal seit Jahren wieder ein ernst zu nehmender Gegner sein. Die Opposition hat sich verbündet: Als Egységben Magyarországért (Vereint für Ungarn) treten sechs zum Teil sehr unterschiedliche Parteien gemeinsam an, von sozialistisch, grün-linksliberal über zentristisch bis hin zu rechtspopulistisch. An der Spitze des Bündnisses steht nach mehreren Vorwahlen: Péter Márki-Zay.
Wer ist Péter Márki-Zay?
Der 49-Jährige ist der Bürgermeister der Stadt Hódmezővásárhely. Dass Márki-Zay dort 2018 nach dem Tod des amtierenden Bürgermeisters die Ersatzwahlen gewann, war eine Überraschung: Die Stadt im Südosten Ungarns war über Jahrzehnte eine Fidesz-Hochburg. Márki-Zay, auf der Straße oft nur „MZP“ genannt, galt als Politiker „von unten“, als vielversprechender Newcomer. Vor den Wahlen in Hódmezővásárhely hatten aber die wenigsten Ungarn je von ihm gehört.
Márki-Zay ist Volkswirt. Ein paar Jahre arbeitete er in Marketingpositionen in den USA und Kanada. Aber 2009 kam Márki-Zay zurück, mit seiner Frau und den sieben Kindern, und blieb nicht wie viele junge, gut ausgebildete Ungarn im Ausland. Expert:innen vermuten, dass viele Ungarn sich im gläubigen Katholiken Márki-Zay wiedererkennen. Und dass er konservative Werte vorlebe, die auch unentschiedene oder sogar der Fidesz zugeneigte Wähler:innen überzeugen könnten.
Die sechs Parteien im Oppositionsbündnis
- Demokratikus Koalíció (DK), sozialliberal
– Jobbik, früher rechtsextrem, gibt sich heute Mitte-rechts
– Magyarország Zöld Pártja (LMP), grün und proeuropäisch
– Magyar Szocialista Párt (MSZP), sozialdemokratisch
– Momentum Mozgalom (MM), liberal und proeuropäisch
– Párbeszéd (PM), grün
Wie 2018 zur Wahl in Hódmezővásárhely wird Márki-Zay als Parteiloser antreten, diesmal als offizieller Kandidat der vereinten Opposition. Statt weiter Kandidat:innen verschiedener Oppositionsparteien zu nominieren, die sich gegenseitig Stimmen kosten, soll, so die Strategie, künftig nur noch die Person für die Opposition antreten, die die besten Chancen hat. Diese Idee der „taktischen Wahl“ geht nicht überall im Land auf. Aber bei den Kommunalwahlen 2019 zeigte sie erste Erfolge: In Miskolc und Pécs, viert- und fünftgrößte Stadt des Landes, lösten Oppositionelle die Fidesz-Bürgermeister ab.
Heute tritt die Opposition – zumindest nach außen – als Bündnis auf und will die neue Einigkeit auch fernab der Städte bis in die Dörfer umsetzen. In der Sachpolitik gestaltet sich das oft schwer. Neben sozialistischen und liberalen Parteien ist auch die teils rechtsextreme Jobbik im Bündnis. Die Oppositionspartner setzen also nicht nur verschiedene politische Schwerpunkte, sondern dürften auch in manchen Menschenrechtsfragen unterschiedlicher Auffassung sein.
„Was Viktor Orbán in einer Person zu verkörpern versucht – eine Koalition aus Liberalen, Kommunisten, Konservativen und Faschisten – vertreten wir im Bündnis getrennt voneinander“, kommentiert Márki-Zay diese Differenzen. „Als vernünftiger Mensch kann jeder seine eigene Weltsicht, seine eigene Position behalten.“ Wie sich diese grundverschiedenen Positionen in einer parlamentarischen Zusammenarbeit äußern würden? Ob das Bündnis eine geschlossene Haltung zu Menschenrechtsfragen finden könnte? Solche Fragen bleiben offen. Viele Beobachter:innen zweifeln jedenfalls an der neuen Einigkeit der Opposition.
Auch im Volk galt die Opposition seit 2006 als zerrissen. Damals gab es einen großen Knall: Bei einer Klausurtagung seiner Partei DK (Demokratische Koalition) hielt der damalige ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány eine Brandrede. „Wir haben es verkackt“, hob er an. Dann zählt er all die Versäumnisse seiner Regierung auf, die zur schlechten Haushaltslage Ungarns geführt hätten. Gyurcsány schloss mit seinem berühmtesten Satz: „Wir haben morgens, nachts, abends gelogen.“ Eigentlich wollte er seine Partei in der nichtöffentlichen Sitzung zur Ordnung rufen. Aber Unbekannte schnitten die Rede mit und veröffentlichten sie. Viele Wähler:innen fühlten sich betrogen. Wochenlang kam es in Budapest zu Protesten, Ausschreitungen und Polizeigewalt. Orbán wusste Gyurcsánys Rede noch Jahre später zu nutzen: Er gewann die Parlamentswahlen 2010 mit großer Mehrheit und regiert seither.
Auch Márki-Zay ist inhaltlich mindestens umstritten
Heute ist Gyurcsánys Partei DK Teil des Oppositionsbündnisses, das Márki-Zay unterstützt. Die Fidesz versucht, das zu nutzen. Im Wahlkampf spielt sie immer wieder auf die berüchtigte Rede an, die mehr als 15 Jahre zurückliegt.
Márki-Zay als Marionette Gyurcsánys zu diskreditieren passt in den populistischen Wahlkampf Orbáns. Gyurcsány ist bei vielen Ungar:innen nach wie vor unbeliebt, Márki-Zay dagegen hat möglicherweise das Potenzial, der Fidesz Wähler:innen abzuwerben. In seiner Neujahrsansprache hat Orbán Gyurcsánys Namen zwölfmal genannt, Márki-Zays dagegen nicht einmal.
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Umgekehrt spricht Márki-Zay viel über Orbán. Im Falle eines Wahlsiegs der Opposition sollen viele von Orbáns Verfassungsänderungen zurückgedreht werden. Ungarn soll wieder ein Rechtsstaat, die Korruption bekämpft, Justiz und öffentlich-rechtliche Medien unabhängig werden, heißt es. Das soll auch die Beziehungen zur Europäischen Union entspannen. Die Opposition will „Europa nach Ungarn holen“, damit junge Leute für europäische Werte nicht das Land verlassen müssen, und votiert für einen Eintritt Ungarns in die Europäische Staatsanwaltschaft, eine unabhängige EU-Stelle, die unter anderem gegen Betrug, Korruption und Geldwäsche vorgeht.
Außerdem will sie gegen soziale Ungleichheit angehen (etwa indem sie die Roma-Minderheit stärken will) und für eine nachhaltigere Umweltpolitik eintreten (etwa indem sie die mit einem russischen Kredit geplante Erweiterung des Atommeilers Paks verhindert). Die Opposition fordert bessere Löhne für Lehrer:innen (die in Ungarn gerade in Massen streiken) und Beschäftigte des Gesundheitssystems.
Sie kritisiert auch den Regierungskurs zu Russlands Angriffskrieg in der Ukraine: Orbán hatte zwar humanitäre Hilfe versprochen, aber Waffenlieferungen aus Ungarn und über ungarisches Gebiet verboten. Auf EU-Ebene stimmte Orbán für Sanktionen gegen Russland, die schmerzhaften gegen den russischen Energiesektor will er aber nicht unterstützen. Die Fidesz wolle den Wirtschaftspartner Russland nicht vergraulen, um kurz vor der Wahl den Bezug von Gas und Öl zu sichern, sagt das Oppositionsbündnis.
Doch auch Márki-Zay vertritt umstrittene Ansichten. Er plädiert für eine menschliche Flüchtlingspolitik, will aber den Grenzzaun zu Serbien stehenlassen, den Orbán 2015 bauen ließ. Abtreibung ist für Márki-Zay Mord, seine Kinder mit Gewalt zu maßregeln sei in Ordnung, sich scheiden zu lassen aber nicht. Für queere Menschen dagegen stehe er nicht nur ein, er könne sie sogar vor der LGBT-feindlichen Politik der Fidesz „retten“. Mal argumentiert Márki-Zay erzkonservativ und regressiv, dann wieder modern und zukunftsweisend. Manche finden diese Flexibilität legitim, vertritt Márki-Zay doch sechs Oppositionspartner, die teils grundverschiedene Politik machen wollen; andere finden Márki-Zay inkonsequent.
„Ich freue mich ehrlich gesagt, wenn der Sonntag vorbei ist“, schreibt mein Kumpel Zoltán noch im Chat. Wie die Wahl ausgeht? „Ich glaube, MZP hat Chancen.“ Vielleicht könne er Orbán zumindest um seine Zweidrittelmehrheit bringen. „Aber zu viele Illusionen mache ich mir nicht.“
Titelbild: Akos Stiller/NYT/Redux/laif - Akos Stiller/Bloomberg/Getty Images