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Der Pillenknick

Alle reden vom Medikamentenmangel, aber wie kommt der eigentlich zustande? Und noch wichtiger: Wie werden wir ihn wieder los?

Medikamentenmangel

Der Medikamentenmangel ist in jeder Apotheke Dauerthema. Auf Nachfragen können viele Apotheker:innen spontan eine lange Liste von Produkten aufsagen, die gerade nicht verfügbar sind. So fehlen Medikamente mit Salbutamolsulfat für Asthmatiker:innen und andere Lungenkranke, Dauermedikamente für Menschen mit Typ-2-Diabetes, bestimmte Antibiotika, angstlösende Medikamente, Antidepressiva und laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) noch über 460 weitere.

Für viele der über 460 Medikamente auf der Engpass-Liste des BfArM gibt es noch Alternativen am Markt – aber für die salbutamolhaltigen Asthmasprays nicht. Dabei sind salbutamolhaltige Medikamente für Asthmatiker:innen überlebenswichtig. Sie helfen bei akuten Bronchienkrämpfen, um wieder Luft zu bekommen.

Seit Dezember 2023 gilt daher offiziell ein Versorgungsmangel. Um die Patient:innen zu versorgen, werden nun Arzneimittel aus Spanien und den USA importiert. Die Krankenkassen sollen auf Empfehlung ihres Spitzenverbands die zusätzlichen Importkosten übernehmen. Außerdem sollen Patient:innen nur noch kleine Packungsgrößen verschrieben werden, und Ärzt:innen dürfen keine Rezepte ausgeben, mit denen sich Kranke Vorräte anlegen können.

Aber wo liegt der Grund für die Misere? Profitgierige Hersteller? Bürokratische Gesundheitsministerien? Oder hortende Patient:innen? Die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides erklärte die Medikamentenkrise bereits im Januar 2023 vor dem Europäischen Parlament mit steigenden Nachfragen und unzureichenden Produktionskapazitäten. Die Europäische Arzneimittelagentur nennt Herstellungsprobleme, Engpässe bei Rohstoffen, Verteilungsprobleme und Naturkatastrophen als mögliche Ursachen.

Auch Jasmina Kirchhoff, Pharmaexpertin vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln sagt, es gebe viele Ursachen für den Medikamentenmangel. Eine plötzlich starke Nachfrage, wie etwa im Winter 2022/2023 nach fiebersenkenden Medikamenten und Hustensäften für Kinder, könne immer mal vorkommen. „Die Hersteller legen auch für so einen Fall Lager an, um kurze Spitzen zumindest abpuffern zu können“, erklärt Kirchhoff. Kommt dann aber noch hinzu, dass ein wichtiger Hersteller seine Produktion aufgibt (2022 war das die Firma 1A Pharma), kann das zu einer echten Knappheit des Medikaments führen.

Trotz großer Nachfrage lohnt sich das Geschäft für manche Hersteller nicht

Dass Hersteller trotz großer Nachfrage ihr Geschäft aufgeben, liegt laut Kirchhoff insbesondere an den Preisen. Die Preisgestaltung für Medikamente ist ziemlich kompliziert: Es gibt Festbeträge für gängige Medikamente – mehr als diese Höchstpreise werden von den Krankenkassen nicht übernommen. Das betrifft rund 80 Prozent der verschriebenen Medikamente und oft Generika, also patentfreie Medikamente. Für eine Tagesdosis eines generischen Arzneimittels erhält der Hersteller heute aber oft weniger, als die lokale Wirkstoffproduktion kosten würde.

Um trotz der niedrig angesetzten Festpreise auf Medikamente Gewinne zu erzielen, müssen die Hersteller viel verkaufen. Das soll ihnen über besagte Rabattverträge mit den gesetzlichen Krankenkassen gelingen. Diese harten Preisdeckel und Verhandlungsgeschäfte haben für Patient:innen den Vorteil, dass die Preise besonders für nicht patentgeschützte Generika niedrig sind. Andererseits sorgt der Dauertiefpreis dafür, dass sich der Markt der Anbieter ausdünnt und die Pharmaunternehmen ihre Wirkstoffe möglichst billig beschaffen – und produzieren.

Während im Jahr 2000 noch rund 30 Prozent der Wirkstoffproduktion in Asien erfolgt sind, waren es im Jahr 2020 bereits über 60 Prozent. Wenn die Lieferketten allerdings über den ganzen Globus gespannt seien, können an vielen Stellen auch Lücken entstehen, sagt Jasmina Kirchhoff. Etwa wenn eine Fabrik abbrennt, ein Frachter stecken bleibt, eine Flut die Straßen wegreißt, ein Krieg ausbricht. „Das wird vor allem dann zum Problem, wenn es zu wenige Hersteller auf dem globalen Markt gibt – denn dann gibt es im Zweifel keine Ausweichoptionen, um die Produktion am Laufen zu halten“, sagt Kirchhoff. Viele Unternehmen seien immer wieder von Engpässen in den Lieferketten betroffen, bei Medikamenten habe das aber eine andere Bedeutung: „Wenn sich die Auslieferung eines Neuwagens verzögert, ist das zwar ärgerlich, aber sicher nicht vergleichbar mit medizinischen Notfällen, bei denen das richtige Medikament fehlt.“

Viele europäische Pharmakonzerne lassen ihre Medikamente in Indien herstellen

Hinzu kommt, dass die Lieferketten für die meisten Generika völlig unklar sind. Das Bundesinstitut für Arzneimittel weiß zwar, von welchem Hersteller die Wirkstoffe der Medikamente stammen, aber nicht, welcher der unterschiedlichen Hersteller welche Mengen liefert – wie wichtig also ihr Beitrag für die Produktion ist. Das bleibt Betriebsgeheimnis. Klar ist aber: Viele europäische Pharmakonzerne lassen ihre Medikamente in Indien herstellen, die Wirkstoffe dafür stammen zu 70 Prozent aus China. Das Land stellt etwa bis zu 90 Prozent der globalen Wirkstoffmengen für Antibiotika her. Die Abhängigkeit Europas von asiatischen Wirkstoffherstellern halten viele Expert:innen für problematisch.

Die gute Nachricht ist, dass einige der Mangelursachen derzeit angegangen werden: Neben europäischen Initiativen, die den Pharmasektor in der EU unterstützen sollen – das entsprechende neue Pharmapaket der EU wurde im April im EU-Parlament angenommen –, werden in Deutschland derzeit Veränderungen in der Preispolitik, der Wirkstoffherstellung und der Lieferkettentransparenz angestoßen.

Der große Wunsch der Politik ist es, dass sich wieder mehr Pharmaunternehmen in Deutschland und der EU ansiedeln – und damit die Abhängigkeit von asiatischen Herstellern und ungewissen Lieferketten kleiner wird. In Deutschland legt das „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ seit Juli 2023 fest, dass Krankenkassen bei Verträgen mit den Herstellern für Antibiotika besonders europäische Firmen berücksichtigen sollen. Außerdem sollen finanzielle Anreize zur Entwicklung neuer Reserveantibiotika verstärkt werden.

„Die Versorgungssicherheit hat ihren Preis“

„Das ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Jasmina Kirchhoff, „allerdings sind Deutschland und Europa sehr teure Produktionsstandorte.“ Kirchhoff meint, nachhaltig wäre vor allem eine andere Preisgestaltung. Auch das wird mit dem neuen Gesetz versucht – zumindest für Kinderarzneimittel.

Das Problem ist nur, dass die Medikamente dann am Ende natürlich mehr kosten. „Die Versorgungssicherheit hat ihren Preis“, sagt Kirchhoff. Die Frage sei, wer den am Ende bezahlt – der Staat, dessen Gesundheitsausgaben schon heute mit rund 13 Prozent des BIP die höchsten in der EU sind und zur Weltspitze zählen? Oder die Patient:innen über die Krankenkassenbeiträge oder direkt an der Apothekenkasse?

Darüber hinaus sollen unter anderem Krankenhäuser und Apotheken größere Vorräte anlegen, um Engpässe abpuffern zu können; es soll für Ärzt:innen und Apotheker:innen einfacher werden, im Fall eines Mangels wirkstoffgleiche Medikamente an die Patient:innen abzugeben; und das Bundesinstitut für Arzneimittel baut mit Informationen über die bisher geheimen Lieferketten ein Frühwarnsystem auf, um Engpässe frühzeitig zu erkennen.

Und manchmal liegt der Fall auch ganz anders, wie bei den salbutamolhaltigen Asthmasprays. Die Gründe für den Versorgungsmangel liegen nicht in Asien, sondern wohl bei den beiden Unternehmen in Deutschland, die sich den Markt hier aufteilen: Hexal und GlaxoSmithKline. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte schreibt, es gebe bei einem der Hersteller einen „Qualitätsdefekt bei einem Produkt beim Auslösen der Sprühstöße“, also ein technisches Problem an der Verpackung des Medikaments. Daraus resultieren dann eine erhöhte Nachfrage und Lieferprobleme bei anderen. Warum der Fehler seit über einem halben Jahr nicht behoben werden konnte? Dazu gibt es auf Anfrage bei dem Unternehmen leider keine Antwort.

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, das Bundesinstitut für Arzneimittel wisse nicht, von welchem Hersteller die Wirkstoffe für die Medikamente kämen. Das wurde geändert. 

Fotos:  Jan Q. Maschinski

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.