Sie saßen im Auto und fuhren durch die Nacht, wie sie es bereits seit Wochen taten. Klara am Steuer, Matt auf dem Beifahrersitz. Sie hatten Zeit, und die Pandemie hatte die Straßen in Prag leer gefegt. Trotzdem wollte Klara ihrem Besuch aus London die Stadt zeigen. Sie sprachen über die Uni, die Zukunft, das Leben und Astrologie, da äußerte es Matt zum ersten Mal: „Weißt du was? Ich glaube, ich mag den Namen Matt gar nicht richtig.“ Matt. Das war der neue Name. Er war selbst gewählt, im Ausweis steht ein anderer.
Als Matt mit 17 von Warschau und vom Vater zur Mutter in den englischen Kurort Tunbridge Wells zog, hieß Matt noch Maciej. Den Menschen vor Ort fiel es schwer, den Namen richtig auszusprechen. Maciejs Mutter wies darauf hin, dass man als Pole in England ein wenig aufpassen müsse: Sie hätten dort nicht den besten Ruf. Das erfuhr Maciej bald am eigenen Leib: Einige Mitschüler sprachen wegen des Akzents herablassend mit ihm.
„Viele Bewohner von Tunbridge sind fremdenfeindlich und rassistisch“, sagt Maciej heute. Als Maciej die Versetzung ins nächste Jahr nicht schaffte, riet eine Lehrerin gleich, die Schule ganz zu verlassen. Maciej ist sich heute sicher, dass das mit der polnischen Herkunft zusammenhängt. Es sind diese Erfahrungen, die Maciej schließlich dazu brachten, zumindest ein bisschen mehr wie die britischen Jugendlichen sein zu wollen. Dafür war Maciej auch bereit, einen Teil der alten Identität aufzugeben. Aus dem polnischen Maciej wurde das britische Matt. Ein Name als Schutzschild, hinter dem Maciej das Polnischsein versteckte, in der Hoffnung, es so einfacher zu haben in England. Von nun an stellte Maciej sich mit „Matt“ vor. Die Lehrer kannten den echten Namen, nutzten ihn aber nicht; der Großteil der Mitschüler wusste nicht, dass es Maciej je gegeben hatte. Der Name existierte nur noch zu Hause bei der Mutter und bei der Familie in Polen.
„Für jetzt (und für immer), ciao, Matt. Liebe, Maciej“
Nach der Schule fing Matt an, in Restaurants und Cafés zu kellnern. Auf der Personalkarte stand „Matt“. Erst mit dem Umzug nach London für ein Studium der bildenden Kunst und Fotografie an der Universität der Künste dachte Matt wieder über den alten Namen Maciej nach. Umgeben von Menschen aus unterschiedlichsten Städten, Ländern, Nationen und Ethnien fühlte sich Matt freier. „Ich hatte weniger Angst davor, ich selbst zu sein.“ Im Bekanntenkreis blieb Matt zunächst bei diesem Namen, aber verheimlichte Maciej nicht mehr, und ein paar Dozenten und Professoren nutzten den polnischen Namen bereits.
Aus Prag zurück in London, musste sich Matt wegen der Corona-Einreiseregeln in Quarantäne begeben. Zwei Wochen, von denen Matt die meiste Zeit im Bett verbrachte und in denen Matt eine Frage nicht mehr losließ: Wie war Matt überhaupt entstanden? An einem der Quarantäne-Abende im Oktober sah Matt auf Instagram ein Video der niederländisch-iranischen Sängerin Sevdaliza, in dem sie ihr Lied „Gole Bi Goldoon“ auf Farsi performt – der persischen Sprache, die im Iran Amtssprache ist. Unter dem Post stand: „Dieses Lied ist für das Erbe, das mir all die Gnade und Weisheit gibt, mich durch diese turbulente Welt zu bewegen.“ Matt las die Worte, hörte das Lied und merkte mit einem Mal: „Fuck Matt. Ich will zurück zu meinem echten Namen.“
Früher war es peinlich, wenn jemand „Maciej“ falsch aussprach. Heute amüsiert es Maciej
Kurz darauf öffnete Matt seine Instagram-Story und schrieb hinein, wie schön es war, Matt gewesen zu sein. Aber dass Maciej sich zugleich nicht mehr hinter dem Namen verstecken wolle. „Für jetzt (und für immer), ciao, Matt. Liebe, Maciej“, stand am Ende der Nachricht. Mit dem Absenden der Story kam sofort die Angst hoch – Angst vor der Reaktion von Freunden und Bekannten. Unbegründete Angst. Die Reaktionen, teils von Leuten, mit denen Maciej bisher kaum ein Wort gewechselt hatte, waren durchweg positiv. Die meisten schrieben, dass sie beeindruckt seien von der Entscheidung und dem Mut, Bedürfnisse zu äußern und einzufordern. In der Story hatte Maciej geschrieben: „Ich sollte keinen anderen Namen als Kompromiss nutzen müssen, um weniger kompliziert zu sein, nur damit andere meinen Namen richtig aussprechen können.“ Heute ist es Maciej wichtig, dass sich andere Mühe geben, den Namen zu lernen.
Der Plan ging auf: In den kommenden Wochen fragten Freunde und Bekannte nach der richtigen Betonung des Namens. Vor Jahren war es Maciej peinlich, wenn der Name falsch ausgesprochen wurde, heute amüsiert Maciej sich darüber. „Egal wie perfekt jemand meinen Namen heute ausspricht, ein bisschen anders als zu Hause in Polen ist es immer, und ich mag das.“
Illustration: Frank Höhne