„Nairobi hat entschieden. Du bist zum Tod verurteilt.“ Eine computergenerierte Stimme aus dem Off verkündet das Urteil: 1.169 anonyme Internetnutzer lassen den Autodieb Charles aka Charlo per Mausklick sterben. 63 Zuschauer, oder fünf Prozent seiner namen- und gesichtslosen Richter, urteilten „nicht schuldig“. Charlo ist an einen Stuhl gefesselt, er hat ein Tuch über dem Kopf. Der Raum ist dunkel. Seine letzten verzweifelten Minuten werden per Livestream ins Internet übertragen. Gift tröpfelt in seine Vene. Schließlich zeigt der Monitor eine flache Linie, sein Herz hat aufgehört zu schlagen.

„Tuko Macho“ ist schmerzhaft nah an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Nairobi

„Würdest du einen Kriminellen mit dem Tod bestrafen, wenn du die Chance dazu hättest?“ Diese moralisch hochbedenkliche Frage wirft eine kenianische Mini-Serie auf, die sich an ein junges Internetpublikum richtet und zuerst online ausgestrahlt wurde. „Tuko Macho“ (Kisuaheli für „Wir halten Wacht“) erzählt die Geschichte einer Gruppe selbst ernannter Ordnungshüter in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, deren hohe Kriminalitätsrate ihr den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Nairobbery“ eingebracht hat. Desillusioniert von der Unfähigkeit des Staates, die Kriminalität in ihrer Stadt wirksam zu bekämpfen, nimmt die Gruppe das Recht nicht nur in ihre eigenen Hände, sondern legt sie zugleich in die der Internetöffentlichkeit.

In der ersten Folge entführt die Gruppe den Dieb Charlo, während er versucht, ein Auto zu stehlen und den Besitzer zu entführen. Eine Überwachungskamera filmt das Verbrechen, was den Internetrichtern als Beweis dienen soll. In Gefangenschaft stellt Charlo einem seiner Entführer Fragen: „Für wen wollt ihr diese Stadt aufräumen? Für kleine Leute wie meine Schwester, die sich jeden Tag für wenig Geld abplagen, das nie reicht? Die Stadt wird jeden Tag schöner: neue Häuser, große Hotels.“ Davon profitieren aber nur diejenigen mit viel Geld und Verbindungen. „Ich will nicht nur überleben. Ich will jetzt ein gutes Leben haben.“ Am Ende prophezeit Charlo: „Ihr werdet kein Glück haben. Jeden Tag produziert Nairobi mehr und mehr Typen wie mich.“

Die Serie sollte eine Diskussion über gesellschaftliche Werte auslösen. Das hat funktioniert

„Tuko Macho“ ist samt der darin gezeigten Abstimmung der Internetgemeinde über Leben und Tod der Kriminellen fiktional – und doch schmerzhaft nah an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Nairobi. In der zweiten Folge begeht eine Pfingstkirchen-Pastorin Fahrerflucht, nach der das Opfer stirbt; in einer weiteren wird ein korrupter Beamter der Stadtverwaltung vor das Internettribunal gestellt. Korruption, Straflosigkeit, Betrug – Alltag in Kenia, an dem man verzweifeln kann. „Die Serie ist eine Geschichte über Kenia“, sagt Jim Chuchu, der die Idee für die Produktion hatte. „Die Beispiele sind aus der Realität gegriffen. Uns als Machern fehlt ein Dialog in der Gesellschaft über die wirklich wichtigen Dinge. Deshalb haben wir ‚Tuko Macho‘ gedreht.“

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Szene aus der kenianischen Web-Serie Tuko Macho: Ein stehender Mann im weißen Hemd schaut zu einer Gruppe sitzender Menschen (THE NEST COLLECTIVE)

Korruptionsfreie Zone? Der kenianische Alltag ist das jedenfalls nicht. Darüber, so der Wunsche der Serienmacher, sollen die Zuschauer diskutieren

(THE NEST COLLECTIVE)

Die Serie besteht aus zwölf Folgen, von denen bisher fast jede mehr als 200.000 Mal angeklickt wurde, und ist englisch untertitelt. Sie ist in der sich ständig weiterentwickelnden Jugendsprache Sheng gedreht, mit der sich Kenias Jugendliche identifizieren, einem Mix aus Englisch, der Landessprache Kisuaheli und Sprachen anderer Ethnien in Kenia. Jede Folge ist nur etwa 20 Minuten lang, um sie konsumierbar für Facebook-Nutzer zu machen. „Die jungen Kenianer sind auf Facebook, und gerade sie wollten wir erreichen“, erklärt der 34-jährige Chuchu weiter. „So konnten wir auch sicherstellen, dass tatsächlich ein interaktiver Dialog entsteht.“

Die Idee ging auf: Hunderte Zuschauer kommentierten die Folgen auf der Facebook-Seite von The Nest Collective, einer losen Verbindung junger Kreativer in Nairobi, die „Tuko Macho“ kreiert hat. Die Macher verwickelten sie in Gespräche, zum Beispiel über die Verantwortung des Einzelnen. „Uns Kenianern fehlt der Mut, gegen Missstände in der Gesellschaft anzugehen“, kritisiert Wakio Mwakio auf Facebook. „Solange es meiner Familie und mir gut geht, geht es mich nichts an, was anderen passiert.“ Shalom Njoki schreibt: „Es stimmt, Kenianer lieben Korruption. Wir tun so, als würden wir die Wahrheit wissen wollen, und tun dann nichts, wenn Whistleblower verunglimpft werden und die gierigen Schweine in Amt und Würden bleiben.“

Schuldig oder nicht? Auch die Zuschauer wollten abstimmen

Nach der zweiten Folge wollte die reale Facebook-Community ebenfalls über „schuldig“ oder „nicht schuldig“ abstimmen, ganz wie die fiktiven Internetnutzer in der Serie. „Die Prozentzahlen waren ein bisschen anders als in der Serie“, erzählt Jim Chuchu, „aber das Ergebnis war dasselbe. Die Leute urteilen und kommentieren. Viele haben Erfahrung mit Kriminalität gemacht und ihre Entscheidung damit begründet.“

Die Todesstrafe ist in Kenia per Gesetz noch erlaubt, de facto ist sie seit 30 Jahren aber nicht mehr vollstreckt worden. Die kenianische Polizei ist allerdings für ihre Brutalität und das Töten von Verdächtigen ohne fairen Prozess gefürchtet. Wenn notorische Kriminelle, die die Bevölkerung terrorisieren, durch eine Polizeikugel sterben, statt durch Bestechung der Beamten auf freiem Fuß zu bleiben, nehmen Kenianer dies nicht selten stillschweigend und mit Erleichterung in Kauf. Der Staat schützt seine Bürger nicht. Das erklärt, warum so viele fiktive und reale Tuko-Macho-Zuschauer „schuldig“ gestimmt haben.

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Szene aus der kenianischen Web-Serie Tuko Macho: Polizisten in Uniform (THE NEST COLLECTIVE)

Noch ein heißes Eisen, das in „Tuko Macho“ angefasst wird: die kenianische Polizei ist für ihre Brutalität und das Töten von Verdächtigen gefürchtet

(THE NEST COLLECTIVE)

„Die Serie ist aus der Perspektive der Jugend erzählt – dafür wurden wir kritisiert“, so Jim Chuchu, denn im stark hierarchischen Kenia entscheidet die ältere Generation. Es sei schon seltsam, zu dieser großen Gruppe von Menschen in seinem Land zu gehören und gleichzeitig so ignoriert zu werden. „Dabei sind es die jungen Leute, die Kenia in Ordnung bringen werden. Oder an die Wand fahren.“

Beim dritten Todesurteil in „Tuko Macho“ erwachen Zweifel unter den selbst ernannten Ordnungshütern. „Selbst wenn wir ihn umbringen, ändert sich doch nichts am System“, gibt einer zu bedenken. „Systeme bestehen aus Menschen“, erwidert der Anführer. Dieser wird in der letzten Folge von einem Polizisten gestellt, der anerkennt: „Ihr habt die Stadt verändert.“

Titelbild: THE NEST COLLECTIVE