In der Wohnung von Michael Feldmann und seiner Frau Dafna ist eine großformatige Zeichnung das auffälligste Objekt. Sie zeigt ein enges Geflecht rechteckiger Linien, die sich mittig zu einem nahezu schwarzen Gravitationszentrum verdichten. Das Liniengewirr lässt sich wie eine Anleitung zu „Foxtrot“ lesen: als ein Verweis auf die dramaturgische Struktur des Films und seine wiederholten Richtungswechsel. Auch wird mit der Zeichnung schon früh das titelgebende Motiv etabliert, ein Tanz, dessen Grundschritt ein Rechteck beschreibt. Oder mit den Worten von Michael: „Egal wo du hingehst, du landest immer am selben Ausgangspunkt.“
„Foxtrot“ erzählt von einem Ehepaar in Tel Aviv, dessen Leben durch eine Nachricht tief erschüttert wird: Ihr 19-jähriger Sohn Jonathan, der gerade seinen Militärdienst leistete, ist bei einem Einsatz gefallen. Angelehnt an den Aufbau einer griechischen Tragödie gliedert der israelische Regisseur Samuel Maoz den Film in drei Akten.
Die Bürokratisierung der Trauer
Im ersten Akt wird zum ersten Mal sprichwörtlich „Foxtrott getanzt“. Während Dafna nach einem Zusammenbruch sediert wird, bedrängen die Vertreter/-innen des israelischen Militärs ihren Mann mit entmündigender Fürsorge – „ein Glas Wasser hilft über den ersten Schock“, heißt es gut gemeint. Im Verlauf der Sequenz wird die tragische Grundsituation immer wieder durch satirische Momente irritiert. Michaels Bruder schlägt etwa vor, bei der Traueranzeige den Ausdruck „gepflückt“ statt „gefallen“ zu verwenden. Auch der Militärrabbiner scheint eher einem vorgeschriebenen Protokoll zu folgen statt sich seelsorgerisch um den Trauernden zu kümmern. Die Bürokratisierung der Trauer – eine Tragikomödie.
In die bleierne Atmosphäre platzt unvorbereitet eine zweite Nachricht. Bei dem toten Soldaten soll es sich um einen anderen Jonathan Feldmann handeln. Dafnas und Michaels Sohn hingegen sei am Leben. Auf den ersten Blick geht also alles auf die Anfangsposition zurück. Und doch lässt sich der „Fehler im System“ nicht ungeschehen machen. Michaels angestaute Wut bricht nun aus ihm heraus – und er trifft eine Entscheidung, die das Schicksal der Familie erneut auf tragische Weise ändern soll.
Nur Dromedare passieren die Grenze
Ein abgelegener Checkpoint, der von vier israelischen Soldaten, darunter auch Jonathan Feldmann, bewacht wird, ist das Setting des zweiten Aktes. Der von Ereignislosigkeit bestimmte Alltag hat etwas Surreales, der geringe Grenzverkehr wird hauptsächlich von Dromedaren bestritten. Aus der Lethargie heraus beginnt ein Soldat mit seinem Maschinengewehr einen Foxtrott zu tanzen, der sich in Begleitung von Pérez Prados schmissigen "Que Rico Mambo" zu einer entfesselten Tanzeinlage steigert. Maoz' Kritik am Militär zeigt sich in der Inszenierung der Waffe als erotisch aufgeladene „Tanzpartnerin“ – oder in der Frage, ob der Einsatz der jungen Soldaten in der Einöde einen Sinn hat.
Nach dem visuell eher klinisch-kühlen Auftakt mit seinen wiederholten Vogelperspektiven, die Michael wie in einer Laborsituation beobachten, bestimmen Sepiafarben und diffuse Lichtstimmungen das Bild. Maoz verleiht dem gesamten Mittelteil etwas Wirklichkeitsentrücktes, die Zeit erscheint mitunter wie gedehnt, Wahrnehmungsdetails treten überscharf hervor und wirken fast abstrakt. "Alles, was du siehst, ist eine Illusion", sagt einer der Soldaten – eine These, die durch den plötzlichen Einbruch der Realität schmerzhaft widerlegt wird. Das Kriegsdrama verdrängt die Traumszenerie, als eine angebliche Gefahrenlage fehlgedeutet wird und dadurch eine Gruppe junger Araber/-innen stirbt, die den Checkpoint in einem Auto passieren wollte. Von "oben" wird Stillschweigen geboten, der Wagen wird samt der getöteten Insassen in einer nächtlichen Militäraktion vergraben.
Wenn die Thora gegen Pin-up-Hefte getauscht wird
Zum Bild für die Unübersichtlichkeit der Lage wird der zunehmend im Schlamm versinkende Container, der als provisorisches Schlaflager für die Soldaten am Checkpoint dient. Er ist auch ein Raum zum Teilen von Geschichten: etwa die einer Thora, die mit Jonathans Großmutter die Shoah überlebte und vom Vater gegen ein Pin-Up-Heft eingetauscht wurde, das dieser wiederum an seinen Sohn weitergab. Die kollektive Erfahrung des Militärdiensts zeigt sich hier als ein "Erbe" vor allem zwischen Vätern und Söhnen. In einer Animationssequenz imaginiert Jonathan seinen Vater gar als einen von Scham- und Unzulänglichkeitsgefühlen geplagten Antihelden.
Und noch einmal wechselt „Foxtrot“ den Takt. Maoz entwirft den Schlussteil als ein klassisches Drama um Schuld und Verantwortung. Zeit ist vergangen, doch zugleich werden die im ersten Akt abrupt abgebrochenen Handlungsfäden wieder aufgenommen: Jonathan ist tot, verunglückt auf der Heimfahrt von seinem Einsatz, die Vater Michael im ersten Teil des Films vehement eingefordert hatte – der Systemfehler bekommt nun rückblickend fast etwas Utopisches. An Jonathans Geburtstag treffen Michael und Dafna, deren Ehe längst zerrüttet ist, in der Wohnung aufeinander. Bei einer konfrontativen Aussprache erzählt Michael von einem traumatischen Erlebnis während seiner eigenen Militärzeit. Am Ende einer aufwühlenden Nacht tanzen die Verletzten gemeinsam einen Foxtrott. Dieses Mal ist es ein Trauertanz – mit läuternder Wirkung.
Dieser Text erschien zuerst auf kinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung der bpb. Dort erfährst Du noch viel mehr zu „Foxtrott“. Etwa über die Rolle von Krieg und Militär im israelischen Film, warum Regisseur Saumel Maoz sein Land für traumatisiert hält sowie Zahlen, Daten und Fakten über die israelischen Verteidigungsstreitkräfte.