Sobald es dämmert, verlässt Hrant Uzunian das Haus seiner Familie im Jerewaner Stadtteil Aygedzor für einen Spaziergang. Wenn er zurückkommt, schaut er hoch zum Balkon, auf dem sein kleiner Bruder David oft gegrillt und Bier getrunken hat. Im Flur passiert er die Klimmstange, an der sich David 15-mal hochziehen konnte. Er setzt sich in Davids Zimmer auf das Bett, in dem der so gerne mit seiner Freundin Milena gelegen hat. „Und dann spreche ich mit ihm“, sagt Hrant (22). Er stellt sich vor, dass David noch da ist.
Vater Bagrat hat einen anderen Weg gefunden, mit dem Tod seines Sohnes umzugehen: Er umgibt sich mit dessen Freunden. Mher (19) und Wladimir (20) mussten nicht in Bergkarabach kämpfen. Sie haben gesundheitliche Probleme, der eine mit dem Herzen, der andere mit den Augen. Aber sie ähneln David. Dieselbe Faszination für Autos, Fußball und Videospiele. „Mher lacht so wie David, Wladimir ist kräftig wie mein Sohn“, sagt Bagrat. Sein Gesicht hellt sich auf, wenn er von seinem Jüngsten spricht. Er klingt stolz und begeistert, gar nicht mehr traurig. Der Vater sagt: „Ich warte darauf, dass David zurückkommt.“
David Uzunian ist am 1. Oktober 2020 gestorben, er wurde 19 Jahre alt. Der Splitter einer Rakete durchbohrte seinen Hals, als seine Einheit von aserbaidschanischen Truppen angegriffen wurde. Der Wehrpass, den sie aus seiner Brusttasche gezogen haben, liegt jetzt neben dem Porträtfoto in Davids Kinderzimmer.
Vor gut einem Jahr war David eingezogen worden. Er entschied sich für den Wehrdienst in Karabach, weit entfernt von zu Hause, an einer Grenze, die jederzeit zur Front werden konnte und dann auch wurde. So rückte Davids altes Leben, das als Fußballtorwart in der Jugendauswahl, das mit Milena oder an der Playstation mit Mher und Wladimir, schon in den Monaten vor dem Krieg immer weiter in die Ferne.
Im neuerlichen Krieg um Bergkarabach endete das Leben von insgesamt über 5.000 Männern. Darunter laut offiziellen Angaben 2.783 aserbaidschanische und mehr als 2.700 armenische Opfer. Nach sechs Wochen der Gefechte einigten sich beide Seiten Anfang November auf einen Waffenstillstand. Viele weitere Soldaten werden bis heute vermisst.
Für Armenien, ein Land von der Größe Brandenburgs, und seine rund drei Millionen Einwohner ist die jüngste Eskalation in Bergkarabach eine Tragödie. Nicht nur wegen der verlorenen Dörfer und Städte und Zehntausender Flüchtlinge. Die Gesellschaft muss damit leben, dass viele Männer nicht zurückkehren. Was macht der Verlust ihrer Nächsten mit Freunden und Familie?
„Im Moment“, sagt Gajane Hakobian (24), „bin ich noch in der Phase der Tränen.“ Sie ist die vier Jahre jüngere Schwester von Hakob, einem Wirtschaftsstudenten, der schon während des Studiums für die Zentralbank Armeniens jobbte. Hakob hatte mit Ende 20 feste Pläne, war versiert in Steuergesetzgebung und Monetarismustheorie, programmierte in Python und sammelte Gelder für den aus der Universität hervorgegangenen Thinktank Enlight Studios.
„Was uns früher wichtig war, hat seinen Wert verloren“
In den abgedunkelten Räumen dieses Clubs sitzt nun Gajane und spricht über ihren Bruder. „Seit ich klein war, war Hakob mein Berater, mein Freund und Vertrauter“, sagt sie. Ihre Sätze klingen vorformuliert, aber als sie spricht, laufen Gajane Tränen über die Wangen. „Nach außen wirkte Hakob oft kontrolliert, nur zu Hause sprach er über seine Gefühle.“ Als die Einberufung kam, sei er aufgebrochen, ohne Zögern, ohne falsches Pathos. „‚Wenn der Krieg vorbei ist‘, hat Hakob gesagt, ‚mache ich weiter mit meinem Leben.‘“
Während der Kämpfe wähnte die Familie Hakob weit von der Front entfernt. Er sagte, er sei außer Gefahr. Hakob wollte nicht, dass sie sich sorgen. Das macht den Verlust nun noch schwerer. Ihr habe es aber geholfen, seine Leiche zu sehen, sagt Gajane: „Als kleiner Junge ist er gestürzt und hat eine Narbe am Kinn zurückbehalten. Als ich die sah, wusste ich, dass es Hakob ist. Sein Tod wurde real.“ Vielleicht, sagt sie, könne sie bald mit anderen Hinterbliebenen sprechen. Zwei Freundinnen haben auch ihre Brüder verloren.
Die Hinterbliebenen erleben diese Wochen als Zäsur. Seit der Samtenen Revolution hat sich die armenische Gesellschaft rasant für den Westen geöffnet. Damals im Frühjahr 2018 gingen Tausende vor allem junge Armenier gegen die Wahl Sersch Sargsjans zum Premierminister, die regierende Republikanische Partei, Korruption und Machtmissbrauch auf die Straße. Mit Erfolg: Sargsjans trat zurück, der Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan übernahm mit transparenterer Politik. Viele Expats, die früher im Ausland gelebt hatten, kehrten zurück nach Armenien.
Heute reiht sich in Jerewan ein Tech-Start-up ans nächste, und vor der gewachsenen Zahl an Coffeeshops im Brooklyn-Look scrollen armenische Jugendliche durch ihre Instagram-Feeds. Die Jungen sahen neue Chancen in ihrer immer noch armen Heimat, die hohe Jugendarbeitslosigkeit begann langsam zu sinken. Dann kam die Pandemie, dann kam der Krieg. Was hat sich für junge Armenier geändert?
„Für uns steht alles in einem anderen Verhältnis“, sagt Gajane. „Die Dinge, die wir angeblich brauchten, werden wir jetzt hinterfragen.“ Sie selbst wolle mehr in der Gegenwart leben, nicht mehr so weit vorausplanen. „Ich versuche, die Momente mit meinen Liebsten zu genießen.“
Hrant Uzunian sieht es ähnlich: „Was uns früher wichtig war, hat seinen Wert verloren.“ Er fühlt sich durch Davids Tod plötzlich erwachsener, kümmert sich um Angelegenheiten, die andere Familienmitglieder in ihrer Trauer nicht erledigen können. „Ich muss meinen Eltern eine Stütze sein.“
Auf dem Heldenfriedhof Jerablur bei Jerewan, dessen Grabstätten sich im Krieg verdoppelt haben und auf dem weiter täglich neue Gräber ausgehoben werden, treffen sich Familie und Freunde von Davit Babajanian. Davit wurde 18 Jahre alt, auch er war noch im Wehrdienst. Am 40. Tag nach seinem Tod, ein Ritual in der armenisch-apostolischen Kirche, haben sich Angehörige und Freunde um sein Grab versammelt. „Du kommst nicht zurück!“, ruft seine Mutter immer wieder in den Himmel.
Im Krieg um Bergkarabach gibt es einen Sieger – aber anscheinend kein Ende
Auch Davit hinterlässt Geschwister, die sich nicht verabschieden konnten. Sein großer Bruder lebt in Sibirien und konnte wegen der Corona-Pandemie nicht nach Hause kommen. Seine Schwester Jemma (21) hält die Mutter am Arm und erzählt von Davit, weil die Mutter um Fassung ringt.
Am Ende der Zeremonie bleiben drei seiner Freunde auf dem Friedhof zurück. Arman, Grigor und David sind zusammen mit Davit durch ihr Viertel Vardashen gezogen, seit sie klein waren. Davit, so erinnern sie sich, war für jeden Unsinn zu haben. In Karabach sei er plötzlich ernst geworden. „Er hat sich am Telefon und bei WhatsApp immer wieder für unsere Mühe bedankt“, erzählt Schwester Jemma. „Er wollte unserer Mutter Arbeit abnehmen, wenn er zurückkehrt.“
Davit kommt nicht zurück. Und seine Familie, seine Freunde versuchen wie Tausende andere, ihren Frieden zu machen mit dem Krieg und ihren Verlusten. Das kann gelingen – wenn es friedlich bleibt: Zuletzt gab es wieder Gefechte in Bergkarabach.