Ein zwölfstündiges Hörspiel, das an zwei Tagen deutschlandweit von neun Radiosendern ausgestrahlt wird: Das mag für viele einigermaßen wuchtig und auch etwas antiquiert klingen. Daher eine kurze Erinnerung an die Hörerinnen und Hörer an den Endgeräten: Radio – das ist das Ding, das bei den Eltern in der Küche steht. Hörspiel? Ja, richtig, im Grunde ein Podcast. Was dann auch gleich weniger angsteinflößend klingt: „Saal 101“ kann genauso gut in Form von 24 halbstündigen Episoden online konsumiert werden, als ein in Hochglanz produzierter True-Crime-Podcast sozusagen.
Nur geht es hier nicht um das Nacherzählen irgendeines „mysteriösen“ Kriminalfalls, sondern um die Dokumentation des bedeutendsten Gerichtsverfahrens gegen Neonazis in Deutschland.
Die Ermittlungsbeamt:innen vermuteten den NSU jahrelang im „Ausländermilieu“
In 438 Verhandlungstagen wurde der Hauptangeklagten Beate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht München im Saal 101 der Prozess gemacht. Der selbst ernannte „Nationalsozialistische Untergrund“ hatte zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordet – acht türkisch- und einen griechischstämmigen Menschen sowie eine Polizistin – und mehrere Mordversuche, Bombenanschläge und Raubüberfälle verübt. Das Oberlandesgericht München sprach Zschäpe 2018 des zehnfachen Mordes für schuldig und verurteilte sie zu einer lebenslangen Haftstrafe, auch die vier Mitangeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt.
Diesen Prozess in einem Hörspiel zusammenzufassen ist eine Mammutaufgabe. Tonmitschnitte aus dem Gerichtssaal existieren nicht, weshalb die Nachwelt von dem Prozess vor allem durch die Protokolle der anwesenden Journalistinnen und Journalisten erfährt. Die Episoden bestehen aus Collagen von eingesprochenen Prozessmitschriften, vor allem der protokollierten Zeug:innenaussagen.
„Saal 101“ läuft am 19. und 20. Februar zwischen 20.05 Uhr und 2 Uhr in den Kultur- und Informationsradios von BR, NDR, WDR, SWR, RBB, HR, MDR, SR und Deutschlandfunk. Alle Teile sind ab 19. Februar in der ARD-Audiothek und auf allen gängigen Podcast-Plattformen zu hören.
Was in den ersten Folgen noch so steril wie der neonlichthell ausgeleuchtete Prozesssaal wirkt, entfaltet mehr und mehr Sogwirkung, je länger man zuhört. Denn der Kontrast ist riesig zwischen den nüchternen Aussagen der Ermittlungsbeamt:innen, die jahrelang im Dunkeln tappten und die Täter im „Ausländermilieu“ vermuteten, den anekdotischen Erzählungen der Urlaubsbekanntschaften des NSU-Kerntrios, die auf Fehmarn gemeinsam mit den Terroristen surften und grillten, und schließlich den markerschütternden Schilderungen der Angehörigen.
Der Vater des in Hamburg 2001 erschossenen Süleyman Taşköprü hatte seinen Lebensmittelladen nur kurz verlassen, um Oliven zu kaufen. Es nimmt einem den Atem, wenn er erzählt, wie er, als er zurückkam, seinen schwer verwundeten Sohn hinter der Ladentheke liegen sah. Zwei deutsch aussehende Männer seien ihm aufgefallen, die den Laden kurz zuvor verlassen hatten, gibt er danach zu Protokoll. Die Ermittlungsbehörden werden die beiden Männer nicht finden und zehn lange Jahre überwiegend in Richtung „organisiertes Verbrechen“ ermitteln. Auf die richtige Spur kommen die Beamten erst, als sich der NSU nach einem Banküberfall im November 2011 selbst enttarnt.
Das Veröffentlichungsdatum ist so traurig wie passend gewählt
Damit begann ein langer Prozess der Aufarbeitung aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, journalistischen Recherchen und dem Gerichtsverfahren, das im Juli 2018 endete. Die Strukturen des NSU wurden vor dem Oberlandesgericht nicht vollends ausgeleuchtet – schließlich war es ein Strafprozess, bei dem der Fokus nicht auf der Aufklärung lag, sondern auf der Frage nach der Schuld der Angeklagten. Das Hörspiel zeigt deshalb auch nur diese eine (juristische) Perspektive auf den NSU.
Sich dieser blinden Flecken bewusst, stellt der Bayerische Rundfunk zeitgleich mit dem Hörspiel einen fünfteiligen Podcast online, der die Zusammenhänge und Kontinuitäten rechten Terrors in Deutschland offenlegt. Das Datum der Veröffentlichung ist so traurig wie passend gewählt: Vor genau einem Jahr erschoss ein Rechtsextremist in Hanau an einem Abend zehn Menschen. Weil der Attentäter auch sich selbst tötete, kann es keinen Prozess geben, der die Taten durchleuchtet und wichtige Fragen beantwortet. Umso wichtiger, bei Projekten wie „Saal 101“ genau hinzuhören.
Die Titelbilder zeigen den „Saal 101“ des Oberlandesgerichts München und die Angeklagte Beate Zschäpe mit ihren Verteidiger:innen. Die Fotos stammen aus dem Langzeitprojekt „Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU“ der Fotografin Paula Markert, das auch als Buch erschienen ist.