Einen Tropensturm hat Thomas Fischer schon einmal selbst miterlebt. 2008 war das und Fischer in Tacloban auf den Philippinen, als Taifun Frank über den Inselstaat fegte. „Das war schon heftig. Da zieht dann einfach so ein Schnellzug an einem vorbei, und das für Stunden. So was erlebt man in Deutschland nicht“, erinnert er sich.
Heute schickt Fischer selbst Stürme über Europa und Asien, aber rein virtuelle. Der 43-jährige Geograf arbeitet als „NatCat-Modeller“ – als Modellierer von Naturkatastrophen – für das Rückversicherungsunternehmen R + V Re. Heißt: Er will herausfinden, wie hoch der finanzielle Schaden ist, den die Stürme anrichten können.
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Fischer arbeitet in einer speziellen Branche, die sich die Berechnung des Risikos zum Geschäft gemacht hat. Und die ein wenig um die Ecke gedacht funktioniert, denn seine Kunden sind keine Einzelpersonen, die ihre Einfamilienhäuser gegen Orkane wappnen wollen, sondern andere Versicherungsunternehmen.
Die Grundidee einer Versicherung ist einfach: Es gibt im Leben einige Gefahren und Risiken, die zwar ziemlich selten sind – aber wenn sie eintreffen, dann wird es für den Betroffenen richtig teuer. Ein Hausbrand, ein Autounfall oder eine schwere Krankheit können den finanziellen Ruin bedeuten. Daher sichern sich viele Menschen lieber ab: Sie zahlen einen jährlichen Beitrag an eine Versicherung, zum Beispiel an ihre Haftpflicht- oder Hausratversicherung. Von dem eingezahlten Geld profitieren dann am Ende die wenigen Unglücklichen, bei denen das Haus wirklich gebrannt hat. Das Risiko wird also verteilt.
Rückversicherer sind sowas wie Großhändler des Risikos
Versicherungen sehen zu, dass sie immer ausreichend gefüllte Kassen für den Ernstfall haben – und noch Gewinne machen. Die Versicherungswirtschaft ist eine finanzstarke Branche, doch auch für sie gibt es Ereignisse, die ihre Reserven überschreiten. Wo durch eine Naturkatastrophe oder auch menschengemachte Ereignisse wie Terroranschläge oder Brände sehr großer Schaden auf einmal entsteht, kommen Rückversicherungen ins Spiel. Sie versichern die Versicherungen, sind also gewissermaßen die Großhändler des Risikos, und lassen sich das ebenfalls gut bezahlen: Der internationale Branchenführer Munich Re machte 2020 mit dem Geschäftsfeld Rückversicherung einen Bruttoumsatz von 37,3 Milliarden Euro.
Dabei ist der Arbeitsalltag der Rückversicherer eine Mischung aus höherer Mathematik mit Schwerpunkt Wahrscheinlichkeitsrechnung, Ingenieurwissen, Geografie und Klimaforschung.
Markus Brück arbeitet seit 30 Jahren für die Deutsche Rück. Er handelt spezielle Verträge für riesige Gebäude oder Anlagen mit einem außergewöhnlichen Gefahrenpotenzial aus. „Große Einzelschäden sind in Deutschland meistens Brände oder Explosionen in Großobjekten“, sagt Brück. „So etwas passiert durchschnittlich drei- bis fünfmal im Jahr.“ 2021 war das bisher ein Feuer in einer Galvanikanlage mit wahrscheinlich mehr als 250 Millionen Euro Schaden.
Sogar Rückversicherer sichern sich ab – bei anderen Rückversicherern
Wenn Brück von seiner Arbeit erzählt, fallen schon mal Sätze wie: „Jetzt habe ich als Beispiel ein relativ kleines Risiko von 40 Millionen Euro genommen.“ Denn es gibt eben auch Fälle wie nationale Eisenbahngesellschaften: „Die haben Anlagen und Gebäude im Zig-Milliarden-Bereich, die wird man nie zum vollen Wert versichern können. Aber dass alle diese Werte auf einen Schlag untergehen, ist ja auch sehr unwahrscheinlich.“
Die Risikomanager der Kunden und die beratenden Versicherer machen sich deswegen gemeinsam Gedanken: Wie viel kann bei einem Schadenereignis, beispielsweise einem Großfeuer, wirklich auf einen Schlag zerstört werden?
In seltenen Fällen fährt Brück auch selbst zu einer Industrieanlage, einem Flughafen oder einem Krankenhaus und lässt sich das Objekt zeigen. „Bei besonders komplexen Risiken muss man Ingenieure befragen, die dann Szenarien erstellen, ein Explosionsszenario in einem Kraftwerk beispielsweise“, sagt er.
Sind alle Daten auf dem Tisch, ergibt sich am Ende ein „wahrscheinlicher Höchstschaden“, und der Rückversicherer muss entscheiden, wie viel er davon übernimmt. „Läge der Höchstschaden zum Beispiel bei zwei Milliarden Euro, wären es schon eine ganze Reihe von Versicherern und Rückversicherern, die sich das Risiko teilen“, sagt Brück. Denn auch die Rückversicherer kommen irgendwo an ihre Grenzen – und sichern sich wiederum bei anderen Rückversicherern ab. In der Summe ergibt sich so ein komplexes Netz der Risikoverteilung und -abfederung.
Aber es geht nicht immer nur um einzelne große, teure Fälle wie ein Kraftwerk oder einen Flughafen. Oft ist es auch eine Ansammlung von einzelnen kleinen Objekten, die alle bei einem Unternehmen versichert sind und eine räumliche Nähe haben – und sich so zu einem großen Schadensfall aufaddieren können. „Kumul“ nennt sich so was im Versicherungsdeutsch.
Weltweit sind es vor allem große tropische Wirbelstürme, verheerende Erdbeben oder Waldbrände wie zuletzt in Australien, die derartige Kumul-Ereignisse auslösen. In Deutschland, das katastrophentechnisch bislang weitgehend verschont geblieben ist, sind es eher Hochwasser an Rhein oder Elbe und vor allem (Hagel-)Stürme: Kyrill 2007, Andreas 2013, Ela 2014, Sabine 2020 – wer in der Rückversicherungsbranche arbeitet, ist mit ihnen allen auf Du und Du.
Einer der größten Schäden in der Geschichte der deutschen Versicherungswirtschaft wurde allerdings nicht durch Wind oder Wasser verursacht, sondern durch Hagel. Am 12. Juli 1984 zog eine Unwetterfront über den Großraum München, danach waren Ernten vernichtet, Gebäude beschädigt, 200.000 Autos verbeult und den Versicherungsunternehmen wortwörtlich die Bilanzen verhagelt.
Im Programm von Thomas Fischer steckt ein Katalog von Zigtausenden Sturmverläufen, auch historischen. So ist im Modell unter anderem der verheerende Orkan Kyrill nachgebaut. „Und dann gibt es den gleichen Sturm noch mal, aber 100 Kilometer weiter nach Norden verschoben. Oder mit einer anderen Windgeschwindigkeit, 0,5 Meter weniger pro Sekunde“, sagt Fischer. All diese Konstellationen sind theoretisch denkbar, wenn auch unterschiedlich wahrscheinlich – beispielsweise ziehen die Stürme in Mitteleuropa deutlich häufiger von Westen nach Osten als umgekehrt, Gebirge und Meere beeinflussen ihren Verlauf.
Mithilfe von Softwares moduliert Fischer Schadensprojektionen – in die kann er sogar eingeben, welches Dach ein versichertes Haus hat
Nun ist das eine, zu wissen, wie wahrscheinlich welcher Sturm ist. Das andere ist, welchen Schaden er anrichtet, und zwar nicht nur insgesamt, sondern auch an den einzelnen Gebäuden, Gegenständen und Fahrzeugen, die bei den Kunden versichert sind. Um das herauszufinden, überträgt Fischer die Informationen zu den Objekten ins Modell, so detailliert wie möglich. „Im besten Fall haben wir die exakten Koordinaten eines versicherten Hauses. Manchmal weiß man aber auch nur, dass in einem Postleitzahlenbereich an die 2.000 versicherte Objekte liegen“, sagt er.
Weil die Software immer besser wird, steigen auch Fischers Möglichkeiten: „Das ist kein Vergleich zu dem, womit ich vor rund sieben Jahren angefangen habe. Inzwischen kann man mitunter sogar angeben, ob ein Haus ein Flachdach hat – was die Schadenswahrscheinlichkeit verringert.“
Klimawandel und Cyberkriminalität sind die Zukunftsthemen der Branche
Schließlich kombiniert Fischer die Objekte mit den vielen möglichen Ereignissen aus dem Sturmkatalog und schaut sich an, wie viel Schaden jeweils entstehen könnte. Den daraus ermittelten Durchschnittswert für eine Region nutzt er dann, um den Jahresbeitrag für die Rückversicherung festzulegen. Beim Modellieren muss Fischer auch den Klimawandel im Auge behalten. Die Erderwärmung ist ein großes Thema für die Rückversicherungsbranche, denn mit ihr steigt die Chance auf extreme Wetterereignisse. Eine erhöhte Meerestemperatur beeinflusst die Aktivität von Wirbelstürmen. In Deutschland nimmt wiederum Starkregen zu, der zu Schäden an Häusern selbst in höheren Lagen führen kann.
Neben dem Klimawandel sind auch Cyberrisiken ein Zukunftsthema der Branche. „Ein Sturm passiert maximal auf einem Kontinent, Cyberkriminalität und -terrorismus könnten das erste weltweite Kumul-Ereignis sein“, sagt Markus Brück. Bei seiner Rückversicherung wurde deswegen bereits ein Cybermodell entwickelt. „Vernetzung allgemein ist sicherlich die Herausforderung der Zeit. Neben Serverausfällen und Hackerangriffen betrifft das auch globale Lieferketten.“ Sind die lahmgelegt, etwa weil eine Pandemie oder ein im Suezkanal feststeckendes Schiff den Verkehr zum Erliegen bringt, drohen hohe Ausfälle.
Oder es passiert etwas, das selbst für Experten des Risikos unerwartet kommt. Für Brück war das der Terroranschlag vom 11. September 2001. „Dass das möglich ist, daran hat man im Entferntesten schon mal gedacht“, sagt er. „Aber dass es wirklich eintritt, hat nicht nur die Welt, sondern auch die Rückversicherungswelt und unsere Sichtweisen auf Risiken deutlich verändert.“ Seitdem gibt es Spezialunternehmen für solche Fälle – aber auch öfter mal das Eingeständnis, dass man diesen Schaden einfach nicht abdecken kann.
Titelbild: picture-alliance / dpa