Wer Archäologin oder Archäologe werden will, braucht eine unempfindliche Nase. Denn statt nur mit dem Pinsel vorsichtig Sand von alten Tongefäßen zu entfernen, graben sie gern auch mal dort, wo es ziemlich riechen kann. In antiken Latrinen zum Beispiel oder in Misthaufen, die der norddeutsche Schlick konserviert hat. „Sobald da Luft rankommt, fängt es an zu stinken“, sagt der Ur- und Frühgeschichtler Jens Schneeweiß vom Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie in Schleswig. Abschrecken lässt er sich davon freilich nicht. Denn neben antiken Tempelanlagen oder Grabstätten sind uralte Müllhaufen erstklassige Quellen, um über die Vergangenheit zu lernen. „Müll“, so drückt es Jens Schneeweiß aus, „ist das tägliche Brot des Archäologen.“ Müll verrät, wie Menschen gelebt haben, wann ihre Städte aufblühten und wann sie sich im Niedergang befanden.
Für sogenannte Garbologinnen und Garbologen herrscht an Fundstellen zum Glück kein Mangel. „Die Annahme, dass früher alles weiterverwertet worden sei, ist Blödsinn“, widerspricht der Salzburger Altertumswissenschaftler Günther Thüry einem populären Mythos. Aber früher fehlte es oft an einer organisierten Abfallentsorgung. Und so schmissen die Menschen ihren Müll auf wilde Deponien: in Gruben, auf Haufen und oft auch in verlassene Gebäude, die sich mit Unrat füllten.
Hafenschlamm ist Gold wert
Oder sie warfen ihre Abfälle einfach ins Wasser. Zum Beispiel im Hafen von Haithabu in Schleswig-Holstein. Im Mittelalter war der Ort ein wichtiges Handelszentrum zwischen Nord- und Ostsee. Viele Kaufleute handelten direkt auf den Stegen, an denen die Schiffe anlegten. Bis heute liegt im Schlamm darunter alles, was die Menschen damals entweder verloren oder bewusst über Bord geworfen haben. „Wir finden hier Tierknochen, Münzen und Schwerter, die vielleicht nach Kämpfen ins Wasser fielen“, sagt Jens Schneeweiß. „Der Hafen ist eine wahre Fundgrube, sogar ein halbes Schiff liegt dort auf dem Boden.“ Aus diesen Entdeckungen lässt sich unter anderem auf die Handelsbeziehungen Haithabus schließen.
Einblicke in den Alltag vergangener Zeiten geben oft auch die lehmigen Böden der Straßen und Häuser, in denen sich weggeworfener Müll festgetreten hat. Im Lehmboden einer römischen Küche kommen Pflanzenreste, Fischschuppen und Knochensplitter zum Vorschein. Manchmal wurden die Küchen auch mit Asche ausgestreut, die den entstehenden Gestank überdecken sollte. „Wir lernen sehr viel aus solchem Abfall“, sagt Günther Thüry. „Zum Beispiel: Was wurde da gegessen, und wo kamen die Zutaten überhaupt her?“
Angesichts der Entdeckungen, die Archäologinnen und Archäologen im Müll vergangener Zeiten machten, wuchs bei manchen von ihnen das Interesse, auch die Gegenwart mit diesen aufschlussreichen Methoden zu unter suchen – zum Beispiel bei der deutschen Archäologin Eva Becker.
„Hinterlassenschaften zeigen, was die Menschen wirklich tun, nicht verzerrt durch Falschaussagen oder Selbsttäuschungen“
Dazu inspiriert hat sie die Geschichte von William Rathje, der als Pionier der Müllarchäologie gilt. Zusammen mit seinem Team untersuchte er in den 1970er-Jahren die Deponie Fresh Kills in New York, damals die größte Müllkippe der Erde. Ausgangspunkt seiner Untersuchungen waren Umfragen unter den Einwohnerinnen und Einwohnern New Yorks nach deren Konsumgewohnheiten. Sie behaupteten, sich relativ bewusst und gesund zu ernähren, also viel Obst und Gemüse und wenig Fett und Alkohol zu sich zu nehmen. Die Analyse des Mülls hingegen zeichnete ein völlig anderes Bild. Viele Fast-Food-Verpackungen kamen zum Vorschein und „neben leeren Chipstüten einige wenige angebissene Äpfel“, wie Eva Becker sagt. Was sie daran fasziniert? „Solche Hinterlassenschaften zeigen, was die Menschen wirklich tun, nicht verzerrt durch Falschaussagen oder Selbsttäuschungen.“
Seit Eva Becker vor mehr als zehn Jahren von den Forschungen Rathjes hörte, zieht sie mit ihrer Kamera durch Städte, Dörfer und übers Land. Dabei fotografiert sie den Müll, den sie auf diesen Erkundungstouren findet. Eine ihrer Erkenntnisse: Zwar sind viele Menschen offenbar zu faul, einen leeren Pappbecher oder die Zigarettenkippe zum nächsten Mülleimer zu tragen. Aber ganz offen auf die Straße wollen sie ihren Abfall auch nicht werfen. Also verstecken sie ihn lieber in Hecken und Büschen. Erst im Herbst, wenn die Blätter fallen, werden die Müllmengen deutlich, die sich im Sommer dort angesammelt haben.
Der Monte Testaccio bei Rom besteht vollständig aus Scherben
Aber auch Menschen in vergangenen Zeiten gingen oft wenig verantwortungsvoll mit ihrer Umwelt um, wie Archäologinnen und Archäologen herausgefunden haben. Schon in der Bronzezeit um das Jahr 1800 v. Chr. wurde beispielsweise bei Bruszczewo im heutigen Polen ein See als Müllkippe und Abwasserbecken benutzt, berichtet Jens Schneeweiß. Schließlich kippte er um und war von da an als Frischwasserquelle und zum Fischfang nicht mehr zu gebrauchen. Krankheiten brachen aus, die die Menschen mit Heilkräutern behandelten – der Zusammenhang mit der Wasserverschmutzung war ihnen offenbar nicht bewusst. Im antiken Rom wiederum entsorgten Kaufleute Amphoren aus Ton, in denen sie Wein, Öl oder Fischsoße importiert hatten, manchmal schon nach einmaligem Gebrauch. So schufen sie einen heute noch beeindruckenden Müllberg, den sogenannten Monte Testaccio bei Rom, der vollständig aus Scherben besteht.
Doch auch wenn die Wegwerfgesellschaft unserer Zeit damals schon vorgezeichnet schien: Die Müllmenge, die jede und jeder von uns heute produziert, ist längst viel größer, als es sich die Menschen der Vergangenheit vorstellen konnten. Zudem bestimmen nicht mehr Tonscherben und Knochen unseren Abfall, sondern Kunststoffe wie Styropor, Blechdosen und Pizzakartons. Für Eva Becker wäre es folgerichtig, würden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Zukunft unserer Epoche deshalb einen griffigen und einprägsamen Namen geben: Auf die Stein, Bronze und Eisenzeit müsste dann die heutige „Papier-Plastik-Zeit“ folgen.