Es gibt Städte, die locken mit ihrer Schönheit, mit Nachtleben und Kultur. Und es gibt Slowjansk, Ostukraine: grauer Putz, staubige Straßen, 60 Kilometer bis zur Front. Hier begann vor sieben Jahren der Krieg zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee. Seitdem leben in Slowjansk 110.000 Menschen wie im Corona-Dauer-Lockdown. Freizeitbeschäftigung: Spazieren in kleinen Gruppen und Rumhängen auf den grauen Steinplatten im Stadtzentrum. Kaum Bars, keine Clubs. Wenn nachts die Laternen ausgehen, sind auf den Straßen nur noch streunende Hunde.
Wer Träume hat, muss diese Stadt verlassen, könnte man meinen.
Doch an einem Freitagabend im Oktober ist da plötzlich Stimmengewirr in der Dunkelheit, Gelächter. Sind da Glasflaschen, die aneinanderklirren, und bunte Lichter. Knapp 300 Menschen bewegen sich ruckartig zu Beats, die Arme pumpen im Takt, die Augen sind hinter Sonnenbrillen versteckt. Die jungen Menschen, die in Slowjansk heute auf Techno tanzen, haben den Ausbruch des Krieges in der Ostukraine als Kinder miterlebt. Heute versuchen sie, ihre Stadt kulturell wiederaufzubauen und den Menschen eine Perspektive zu geben.
Einer von ihnen ist Jewhenij Skrypnyk, 24 Jahre alt und Organisator der Party. Die braunen Haare fallen ihm ins Gesicht. Sie haben schon lange keinen Friseur mehr gesehen, auch der Bart sprießt ungezähmt. Sein schwarzer Hoody ist ihm ein paar Nummern zu groß, er strahlt Gemütlichkeit aus, trotz der Anspannung, die ihm ins Gesicht geschrieben steht.
Seit zwei Jahren organisiert Skrypnyk Raves in Slowjansk, doch dieser ist etwas Besonderes. „Boiler Room. In Slowjansk“, sagt Skrypnyk mit weit aufgerissenen Augen, als könne er es selbst kaum glauben. „Was soll jetzt noch kommen?“ Das Londoner Techno-Projekt „Boiler Room“ ist berühmt für seine Partystreams, die Sets von Technogrößen wie Carl Cox oder Honey Dijon werden auf YouTube millionenfach geklickt. Skrypnyk erhofft sich dadurch Aufmerksamkeit – nicht nur für seine Partys, sondern für die gesamte Stadt. „Menschen aus allen Ecken der Ukraine reisen an, aus Ost und West. Sie bleiben einige Tage und lassen Geld hier“, erklärt Skrypnyk.
Als im Jahr 2014 prorussische Separatisten für einige Monate die Kontrolle über Slowjansk übernahmen und eine Schreckensherrschaft errichteten, bot die Stadt kaum mehr Perspektiven. Viele zogen weg, besonders die jungen Menschen.
So war Boiler Room gar nicht das Ziel, als Skrypnyk vor zwei Jahren begann, die Raves zu organisieren. „Wir hatten damals einfach keinen Ort, an dem wir nach zehn oder elf Uhr abends laut sein durften“, erklärt er.
Der erste Rave fand in einem verlassenen Industriegebäude statt. „Shum“ nannte Skrypnyk die Veranstaltung, was übersetzt „Lärm“ bedeutet. Nach Absprache mit den Behörden legte bis weit in die Morgenstunden eine Handvoll DJs auf. Seitdem verändert „Shum“ das Image der Stadt. „Früher war Slowjansk die Stadt, in der der Krieg begann“, sagt Skrypnyk. „Heute ist es die Stadt, in der Shum-Raves stattfinden.“
„Shum“ verändert das Image der Stadt
Dass die Veranstaltung auch anderen Geschäften in der Stadt hilft, wird einige Stunden vor dem Rave im Café Kap sichtbar. Seit der Eröffnung vor einem Monat sei es hier nicht so voll gewesen, sagt Besitzerin Nastja, eine Freundin von Skrypnyk, die alle nur Sliwa, „Pflaume“, nennen. Das Café ist in schummriges rosa Licht getaucht. Hinter dem Tresen verkauft Nastja Milchshakes, Avocado-Toasts und vegane Kuchen. Die Tapete hat sie heruntergerissen und die grauen Steinwände mit rosa Neonfarben besprüht. An den Wänden hängen unscharfe Fotos vergangener Partys, über dem Eingang vor der Tür bunte Stoffwimpel. „Ich hatte das Bedürfnis, irgendwo in dieser Stadt gemütlich einen Kaffee zu trinken“, erklärt Nastja, ein brauner Wuschelkopf von 28 Jahren mit tätowierten Armen und Beinen, einem kleinen Piercing in der Nase und großen Tunneln in den Ohren.
Auf wackeligen Hockern und tiefen, alten Sofas quetscht sich eine Jugend, die so vieles anders machen will als ihre Eltern. Sie spricht Ukrainisch oder Englisch – lieber und oft auch besser als Russisch. „Das führt zu Konflikten, meine Oma hasst es, dass ich nur noch Ukrainisch spreche“, sagt Kateryna Bosjatschenko.
Für Bosjatschenko ist Sprache ein Mittel, ihre Identität als Ukrainerin auszudrücken, sich von Russland und der sowjetischen Vergangenheit des Landes zu distanzieren. Wer den Konflikt in der Ostukraine verstehen will, muss in die Vergangenheit schauen. Zu Sowjetzeiten galt die Ostukraine als fortschrittliche Industrieregion, ihre Arbeiterklasse als stolze Avantgarde der kommunistischen Gesellschaft. Russisch zu sprechen zeigte, dass man sich diesem System zugehörig fühlte, – und wird deswegen gerade von Älteren, wie Bosjatschenkos Großmutter, noch immer bevorzugt. Auf den Zusammenbruch des Systems folgten nicht nur wirtschaftliche und soziale Probleme, sondern auch Identitätskrisen.
Bosjatschenko überbrückt die Zeit bis zum Rave mit einem Kaffee. Alkohol verkauft Nastja noch nicht. Und auch von härteren Drogen scheint das junge Partyvolk in Slowjansk weit entfernt. Vor dem Café Kap strauchelt ein junger Mann, vermutlich Drogen. Auf die Party wird er es später nicht schaffen. Im Café rollt Kateryna Bosjatschenko genervt die Augen. Ihre Freundinnen vermuten, der Gast sei aus Kiew angereist, wo Drogen auf Technopartys weit verbreitet sind. In Slowjansk haben viele darauf keine Lust. Auch Veranstalter Skrypnyk will illegale Substanzen von seinen Raves fernhalten, sagt er.
Kateryna Bosjatschenko ist aus der Nachbarstadt Kramatorsk angereist. Eigentlich stammt sie aus Debalzewe, um das im Krieg heftig gekämpft wurde und das heute nicht mehr unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht. „Der Krieg hat uns viel genommen, aber auch viel gegeben“, sagt Bosjatschenko. „Er hat der kulturellen Entwicklung, der Kunst und der Musik, einen Schub gegeben.“
„Wir müssen auf den Ruinen etwas Neues aufbauen“
Die 20-Jährige hat sich einem Theaterprojekt angeschlossen, mit dem sie durch das Land und durch Europa reist. Im aktuellen Stück verarbeiten die Darsteller ihre persönlichen Kriegserlebnisse. In Bosjatschenkos Familie schwelt bis heute ein ungeklärter Konflikt. Ihre Onkel schlossen sich unterschiedlichen Konfliktparteien an, kämpften gegeneinander, einer starb für die Separatisten.
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Ähnliche Geschichten haben fast alle Gäste im rosa Café Kap zu erzählen. Aber die wenigsten wollen reden. In der Ecke steht ein Plattenspieler. Es läuft Tupac. „Den Vibe, den wir ausstrahlen, den ziehen wir auch an“, ist Besitzerin Nastja überzeugt. „Und wir haben hier einen positiven Vibe. Wir glauben an das Gute.“ Es ergebe keinen Sinn zurückzuschauen. „Wir müssen auf den Ruinen etwas Neues aufbauen.“
Passend dazu hat sie im Hinterzimmer einen Secondhandstore eingerichtet. Vor den Partys kleiden sich die Gäste hier ein, machen Fotos, beraten über Outfits. Ein Mädchen aus Belarus ohne Augenbrauen und mit weißblonden kurzen Haaren schminkt die anderen. Ein 15-Jähriger überprüft seinen Style im Spiegel: nackter Oberkörper, langer Pelzmantel, dicke Sonnenbrille. Passt. Daneben junge Männer und Frauen in Plateauschuhen, übergroßen Jeansjacken, mit Tattoos und grellen Lidschatten. Einer trägt Anzug und dazu eine Jägermeister-Goldkette auf der nackten Brust. So werden sie bis in die Morgenstunden tanzen.