Bevor es die Bushaltestelle gab, mussten Besucher:innen auf dem Weg nach Sieben Linden das letzte Stück des Wegs zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen. Eineinhalb Kilometer Schotterweg, ohne Beleuchtung. Seit einem halben Jahr fährt der Bus von Wolfsburg vorbei an Getreidefeldern bis zu einem Wartehäuschen im ländlichen Nirgendwo mit der Aufschrift „Ökodorf Sieben Linden“.
Von dort führt ein Kiesweg zum Dorfplatz. Schilder weisen den Weg zum Besucherzentrum, zum Naturwarenladen, zum Meditationsraum. Grün ist es überall, auch Ende November. An einem nassen Samstag stehen hier etwa zehn Besucher:innen im Schlamm. Corinna Felkl ist die Einzige mit passendem Schuhwerk: Gummistiefel. Sie wohnt seit über 20 Jahren im Ökodorf. Heute führt sie die Besuchergruppe durch Sieben Linden.
An einem ähnlich ungemütlichen Novembertag im Jahr 1996 stand Felkl selbst zum ersten Mal hier im Schlamm. „Einige von uns hatten sich ihr Ökodorf am Strand vorgestellt oder zumindest an einem Fluss“, erzählt sie. Was sie stattdessen fanden: ein Stück altmärkischer Kiefernwald und ein Bauernhaus mit zerfallenem Stall. Das Ziel der Gruppe: ein Leben in Gemeinschaft und mit einem möglichst kleinen CO2-Fußabdruck. Acht Jahre dauerte es von der Idee bis zum Einzug der ersten Sieben- Lindner:innen. Heute wohnen etwa 140 Menschen im Ökodorf, 40 davon Kinder und Jugendliche. Auf dem Gelände stehen elf Wohnhäuser, die die Genossenschaft selbst gebaut hat, und einige Bauwagen. Es gibt Büros, Künstlerateliers, eine Unterkunft für Besucher:innen, einen Waldkindergarten und verschiedene Werkstätten. Insgesamt umfasst das Dorf über 100 Hektar Land, dazu gehören Bauland, verpachtetes Ackerland und selbst bewirtschaftete Gemüsegärten für die Lebensmittelversorgung sowie Waldfläche für Holz zum Heizen. Irgendwann sollen hier 300 Menschen leben, so die Vision.
Die Besucher:innen sind vor einem Haus zum Stehen gekommen, das aussieht wie ein gewöhnlicher Neubau in einer Wohnsiedlung am Stadtrand. Auf dem Balkon dreht sich ein kleines Windrädchen. Doch es ist kein gewöhnlicher Neubau: Der Putz ist aus Lehm, die Wände mit Stroh gedämmt. Fast alle Materialien für den Hausbau stammen aus der näheren Umgebung und sind ökologisch abbaubar. Der Bau verbrauchte so besonders wenig Energie. Gleichzeitig muss dank der effizienten Strohdämmung wenig geheizt werden. Einige der Häuser im Ökodorf verfügen sogar über ein Solardach und produzieren so rund 65 Prozent des Stroms, den sie verbrauchen. Insgesamt ist der CO2-Fußabdruck der Sieben-Lindner:innen um zwei Drittel kleiner als der der Durchschnittsdeutschen.
Felkl läuft weiter durch den Schlamm, bis sie haltmacht vor zwei Holzschuppen. Rampen für Schubkarren führen zu einer Öffnung in der Wand. Auf diesem Kompost werden die Fäkalien der Bewohner:innen und Besucher:innen entsorgt. In Sieben Linden wird zum Klospülen kein Wasser verwendet. Jedes Klo ist eine sogenannte „Trocken-Trenn-Toilette“, bei der Urin und Fäkalien separiert werden. Das Abwasser aus dem Dorf, inklusive Urin, wird in der Pflanzenkläranlage gereinigt. Die Fäkalien werden im Holzschuppen deponiert und teilweise als Dünger verwendet.
„Früher sagten wir: Wir wollen zeigen, dass ein gutes Leben mit wenig Geld möglich ist. Diesen Satz haben wir mittlerweile aus unserem Vokabular gestrichen“
Nach der Führung sitzt Eva Stützel, Dorfmitbegründerin, im Besucherzentrum beim Mittagessen. Es gibt Curry, Bulgur, Kartoffelsalat und Kraut. „Früher sagten wir: Wir wollen zeigen, dass ein gutes Leben mit wenig Geld möglich ist. Diesen Satz haben wir mittlerweile aus unserem Vokabular gestrichen“, sagt sie. Es ist wohl der größte Widerspruch des Projekts: Jeder und jede, die sich ein ökologisches Leben in Gemeinschaft wünscht, darf nach Sieben Linden kommen. Aber für eine Aufnahme im Ökodorf brauchen Anwärter:innen 25.000 Euro Eigenkapital für Genossenschaftsanteile. Beim Auszug werden die zwar zurückgezahlt, aber man muss sie eben erst einmal aufbringen. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum nach Sieben Linden mehr Akademiker:innen als Nichtakademiker:innen ziehen. „Wenn jemand herziehen will, aber zu wenig Geld hat, finden wir eine Lösung“, sagt Stützel. So gebe es etwa solidarische Genossenschaftsmitglieder, die für andere zahlen, ohne selbst im Dorf zu wohnen. Manche bekämen auch Unterstützung aus dem Freundeskreis oder von der Familie. Aber: Der hohe Betrag schrecke wohl trotzdem einige Leute ab.
Sieben Linden soll keine Insel sein, das betonen die Sieben-Lindner:innen oft. Doch das war nicht immer so: Zu Beginn war es den Pionier:innen ein Anliegen, eine räumliche Distanz zum nächsten Dorf Poppau zu wahren. „Wir wollten hier unser Ding machen, ohne dass wir mit Nachbarn über die Gestaltung der Vorgärten diskutieren müssen“, sagt Eva Stützel. Heute sitzt sie als Einzige aus dem Dorf im Gemeinderat. Stützel rät in ihren Seminaren zum Gemeinschaftsaufbau, lieber in bereits bestehende Infrastruktur zu investieren, statt neue zu bauen. „Nur weil wir hier draußen unser Dorf aufgebaut haben, musste die Busfahrtgesellschaft ein neues Stück Boden versiegeln für die Haltestelle“, seufzt Stützel. Das ökologische Leben ist ein ständiges Abwägen zwischen Kosten und Nutzen, zwischen Utopie und Realismus – ein Leben mit Kompromissen.
Auch innerhalb der Dorfbevölkerung müssen Kompromisse eingegangen werden. Es gibt Alte und Junge. Leute, die im Dorf angestellt sind, und solche, die außerhalb arbeiten. Veganer und Fleischesserinnen. An diesem Konflikt wäre die Dorfgemeinschaft einmal fast zerbrochen: Die einen wollten Nutztiere halten, Eier und Milch im Dorf verarbeiten. Die anderen wollten eine komplett vegane Ernährung auf dem Gelände. Der Kompromiss war: Auf dem Gelände werden keine Nutztiere gehalten, außer den Alpakas für Dünger. Dafür besorgen sich diejenigen, die das wollen, ihre Eier und Kuhmilch woanders.
Solche Entscheidungen werden im Dorf in den sogenannten Räten getroffen. Dort wird gerne mal stundenlang debattiert. Das Gemeinschaftsleben erfordert Sitzfleisch. Die Corona-Pandemie war nach der Tierhaltung die zweite Zerreißprobe der jüngeren Vergangenheit.
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Das Dorf bildet das gesamte Meinungsspektrum in Bezug auf die Pandemie ab: Einige kommen nicht mehr zu gemeinschaftlichen Veranstaltungen, aus Angst, sich zu infizieren. Andere demonstrieren neben Querdenkern gegen die Maßnahmen der Regierung.
Jonas Duhme haben die Corona-Diskussionen an die Schmerzgrenze gebracht. Der 32-Jährige sitzt mit einer Tasse Tee in der Raucherecke, einer überdachten Holzlounge hinter dem Besucherzentrum, und sagt: „Mit ein paar wenigen Leute hier rede ich darüber nicht mehr.“ Besonders geärgert habe ihn ein Prospekt, der Falschinformationen verbreitete, den jemand im Dorf ausgelegt hatte.
Duhme kam vor drei Jahren nach Sieben Linden, als er für ein Buch, ein Verzeichnis von Ökodörfern, recherchierte. Während der Arbeit meldete sich bei ihm auch eine rechtsextreme völkische Siedlung, die ins Verzeichnis aufgenommen werden wollte. Duhme lehnte ab. Doch fortan beschäftigten ihn die „grünen Braunen“ – und Duhme blieb im Ökodorf. Seither ist Sieben Linden im lokalen Bündnis gegen Rechts und grenzt sich klar von völkischen Ökobewegungen ab
Bisher gelang es den Sieben-Lindner:innen, ihre Konflikte zu lösen oder beiseitezuschieben – um in anderen Bereichen an der gemeinsamen Utopie weiterzubauen. Beim Thema Corona sei das besonders schwierig, sagt Duhme. „Ich habe gelernt, mit diesen Widersprüchen umzugehen. Und akzeptiert, dass ich die anderen Menschen nicht ändern kann. Wir müssen nicht in jedem Bereich Gemeinschaft sein“, sagt Duhme.