Welche Kriterien muss ein Land erfüllen, damit es Teil der Europäischen Union wird?
Jeder europäische Staat kann die Mitgliedschaft beantragen, wenn er die demokratischen Werte der Europäischen Union (EU) achtet und sich verpflichtet, diese zu fördern. Klingt einfach, ist aber kompliziert: 1993 legten die damaligen Mitglieder drei zentrale Kriterien – die sogenannten Kopenhagener Kriterien – für den Beitritt fest: Dabei sollen Bewerberstaaten erstens auf der politischen Ebene stabile Institutionen haben, die rechtsstaatliche Ordnung sowie die Einhaltung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten gewährleisten. Zweitens sollen diese Länder eine funktionierende Marktwirtschaft haben und mit dem Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt mithalten können. Schließlich gibt es das „Acquis-Kriterium“: Wer bei der EU mitmachen will, muss das EU-Recht, den Euro sowie die Politik der EU (auch „Acquis communautaire“ genannt) umsetzen und die entsprechenden EU-Gesetze in das eigene politische System integrieren können. Dazu gehören etwa Entschlüsse, Verträge und Instrumente der Außen- und Sicherheitspolitik im eigenen Land.
Und wie geht es dann weiter?
Will ein Land der EU beitreten, stellt es einen Antrag beim EU-Rat. Der holt dann von der EU-Kommission eine Stellungnahme dazu ein, inwieweit das Land fähig ist, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Auf dieser Grundlage entscheidet der Rat, ob Beitrittsverhandlungen eröffnet werden. Und dann geht es erst richtig los: In 35 thematisch unterteilten „Kapiteln“ wird vom freien Warenverkehr über Bildungs- bis zu Finanz- und Budgetfragen jeder Einzelbereich auf EU-Kompatibilität abgeklopft. Man identifiziert, wo es Handlungsbedarf gibt und setzt Ziele fest, die bis zur Mitgliedschaft noch erreicht werden müssen. Während dieser Zeit werden die Bewerberländer finanziell, verwaltungstechnisch und fachlich von der EU unterstützt und alle Entwicklungen in einem jährlichen Fortschrittsbericht festgehalten. Erst wenn alle Kapitel erfolgreich abgeschlossen sind, ist der Prozess beendet. Wenn dann die EU-Kommission einen letzten positiven Fortschrittsbericht schreibt, das EU-Parlament dem Beitritt mit absoluter Mehrheit zugestimmt hat und der Rat die Aufnahme einstimmig beschließt, müssen die Staats- und Regierungschefs des Bewerberlandes und aller EU-Länder den Beitrittsvertrag unterzeichnen und in ihrem Land bestätigen lassen.
Wie objektiv sind die Beitrittskriterien überhaupt?
„Es gibt keine konkreten Kennzahlen, an denen die Beitrittskriterien festgemacht sind“, sagt Nicolai von Ondarza, EU-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Einfach messbar ist die Umsetzung der EU-Gesetzgebung, ob etwa die Zollregeln der EU schon im Bewerberland umgesetzt werden. Über die politischen Kriterien wird dagegen eher abwägend entschieden.“ Und auch der Verlauf der Verhandlungen selbst sei stark politisiert, sagt von Ondarza – die Eröffnung und die Schließung jedes Verhandlungskapitels muss einstimmig von allen Mitgliedstaaten beschlossen werden. Ihre Vetomöglichkeit nutzen einzelne Länder immer wieder, um eigenen Forderungen Gehör zu verschaffen. Nordmazedonien etwa musste seit seinem offiziellen Status als Beitrittskandidat 17 Jahre warten, weil erst Griechenland und dann Bulgarien die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen blockierten.
Welche Rolle spielen die Geschichte eines Bewerberlandes oder Religionen und Kulturen seiner Bevölkerung?
Offiziell sind das keine Beitrittskriterien für die EU. Aber die Frage danach, was ein „europäischer Staat“ genau ist, wird seit über 30 Jahren diskutiert. Marokkos Bewerbung wurde 1987 abgelehnt, weil das Land kein europäischer Staat sei. Die Türkei, die geografisch fast vollständig zu Asien gehört, wurde 2004 Beitrittskandidat – und löste Diskussionen darüber aus, inwiefern dem Projekt der EU gemeinsame religiöse und philosophische Traditionen zugrunde liegen sollen. Und die nächste Richtungsentscheidung steht bald an: Georgien ist der erste potenzielle Beitrittskandidat, der keine Außengrenze mit anderen EU-Staaten teilt und geografisch im Kaukasus liegt.
Wer verhandelt da eigentlich?
In der EU ist für die Bewerbungsverhandlungen die „Generaldirektion Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen“ zuständig. Der derzeitige Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi ist Ungar und bekannt dafür, dass er die EU-Integration der Länder des Westbalkans vorantreibt – dafür und für seine Nähe zum ungarischen Premier Viktor Orbán steht er bei manchen innerhalb der EU in der Kritik. Die Verhandlungen selbst finden zwischen den Minister:innen und Botschafter:innen der EU-Regierungen und dem Beitrittsland in einer Regierungskonferenz statt. „Der Spielraum für echte Verhandlungen ist für die Beitrittsländer dabei sehr klein“, sagt Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza, „die EU stellt die Bedingungen, und die Länder müssen sie erfüllen. Das ist eher eine Prüfungssituation.“
Wie lange dauert so ein Beitrittsprozess?
Normalerweise einige Jahre. Besonders schnell ging es im Fall von Finnland, das – weil es schon bei der Bewerbung praktisch alle Anforderungen erfüllte – bereits drei Jahre nach Antragstellung aufgenommen wurde. Die längsten Verhandlungen führt seit 17 Jahren die Türkei. Derzeit sind sie „eingefroren“ – unter anderem, weil seit dem Putschversuch 2016 Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in dem Land eingeschränkt wurden. Ein Vertragsabschluss scheint mittlerweile in weite Ferne gerückt.
Kann die EU zu groß werden?
Nach den Osterweiterungen 2004 und 2007 reduzierte die EU zunächst das Erweiterungstempo. Mit dem Angriffskrieg Russlands habe sich die geostrategische Situation in der EU verändert, so Nicolai von Ondarza. „Die Ukraine kämpft derzeit auch für ihr Recht, zur EU zu gehören. Und dafür musste die Union dem Land ein entsprechendes Angebot machen.“ Die Ukraine und die Republik Moldau wurden im Juni 2022 als Kandidaten anerkannt. Damit einher gingen auch Beitrittssignale an die (schon länger wartenden) Länder des Westbalkans (Montenegro, Serbien, Albanien und Nordmazedonien). Auch wenn die Osterweiterung der EU weithin als erfolgreiche und stabilisierende Außenpolitik-Strategie gilt, wird darüber derzeit diskutiert. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die Union mit 30 bis 35 Mitgliedern noch handlungsfähig wäre, wenn ihre Entscheidungsprozesse so wie jetzt noch Einstimmigkeit voraussetzten. Besonders Deutschland, Frankreich und Italien fordern Reformen der EU-Entscheidungsprozesse.
Wie stehen die EU-Bürger*innen zu eventuellen Erweiterungsrunden?
Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass die meisten EU-Bürger:innen (58 Prozent) einer schnelleren Aufnahme neuer Mitglieder zustimmen. In vielen westeuropäischen Ländern liegt der Wert darunter, etwa in Deutschland (53 Prozent), Frankreich (47 Prozent), den Niederlanden (46 Prozent) und Österreich (45 Prozent). In Bezug auf einen Beitritt der Ukraine sind die Werte noch höher: 66 Prozent der EU-Bürger:innen stimmen zu, dass die Ukraine der EU beitreten sollte, wenn sie dazu bereit ist.
Wann könnte die Ukraine beitreten?
Das hängt davon ab, wie lange der Krieg noch dauert und in welchem Zustand das Land danach sein wird. Vor dem Angriff durch Russland gab es bereits jahrzehntelang Annäherungen an die EU, doch die Ukraine hatte noch Probleme, unter anderem mit der Rechtsstaatlichkeit. Laut dem Korruptionswahrnehmungs-Index von Transparency International lag die Ukraine 2021 weltweit auf Platz 122 von 180 Ländern. „Es wird für die Ukraine kein Schnellverfahren geben“, sagt Nicolai von Ondarza. „Aber der Beitritt ist politisch gewollt, und wenn der Krieg vorbei ist, könnte der Wiederaufbau parallel zur EU-Integration laufen. Wenn das gut geht, könnte die Ukraine in sieben bis zehn Jahren Mitglied sein.“ Weil die EU Beitrittskandidaten mit ähnlichen Bedingungen oft in „Länder-Paketen“ behandelt, könnte diese Prognose auch für die Republik Moldau gelten. „Beide Länder haben eine klare europäische Perspektive und ähnliche institutionelle Voraussetzungen und Schwierigkeiten“, sagt von Ondarza. Darum sei es sehr wahrscheinlich, dass ihr Beitritt parallel laufe.
Kann eine Kriegspartei überhaupt in die EU aufgenommen werden?
Grundsätzlich ja. Allerdings: Weil sich die Mitgliedstaaten im Artikel 42 des Vertrags über die Europäische Union verpflichtet haben, einander im Fall eines Angriffes zu helfen, ist es im Interesse der EU, offene Konflikte vor dem Beitritt beizulegen. Nicht immer ist das gelungen – etwa im Zypern-Türkei-Konflikt.
Titelbild: Joris van Gennip/laif