Von den inzwischen mehr als acht Milliarden Menschen auf der Welt leben weniger als die Hälfte in Demokratien. Es gibt immer mehr Autokratien, die Menschenrechte einschränken – zum Beispiel das Demonstrationsrecht. Wer trotzdem protestiert, dem drohen harte Strafen, manchmal sogar der Tod. Beobachten kann man das aktuell in Iran, wo bei Protesten gegen das autoritäre Regime wohl mindestens 470 Menschen getötet wurden. Um sich vor Repressionen zu schützen, sind die Menschen in autoritären Regimen schon immer kreativ geworden – wie diese sechs Camouflage-Protestaktionen zeigen.
Protestnoten in Iran (2010)
In einigen Provinzen lag die Wahlbeteiligung bei über 100 Prozent, in manchem Wahllokal waren die Wahlurnen schon vor der Öffnung gefüllt worden, anderswo verschwanden Wahlzettel. Die Wiederwahl des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad konnte keine legitime gewesen sein, da waren sich Hunderttausende Iraner im Juni 2009 einig. Und protestierten wochenlang gegen Ahmadinedschads zweite Amtszeit.
Die iranischen Sicherheitskräfte setzten Schlagstöcke und Tränengas ein. Amnesty International schätzt, dass bis Ende 2009 etwa 5.000 Demonstranten verhaftet wurden, Dutzende starben. Als das Regime später das Internet abschaltete, schufen die Iraner kurzerhand ihr eigenes Massenmedium. Sie schrieben regimekritische Slogans auf Geldscheine. „Das iranische Volk wird Gerechtigkeit erfahren, egal wie“ zum Beispiel oder „Lang lebe die Freiheit“.
Die Regierung war hilflos: Geld lässt sich schlecht verbieten. Die Protestform war so effektiv, dass sie später von Klimaaktivisten in Brasilien kopiert wurde. Sie stempelten Flammen auf Geldscheine, um auf Waldbrände im Amazonas aufmerksam zu machen.
Pingpong in Syrien (2011)
Als sein Plan aufging, saß Ahmed Zaino in einem Gefängnis in Damaskus. Am Tag zuvor war er bei einer Demonstration gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad festgenommen worden. Während des Arabischen Frühlings hatte es Tausende wie Zaino auf die Straßen getrieben. Assad ließ die Demonstrationen niederschlagen. Wie sollten Zaino und seine Freunde dagegen ankommen?
Ihr Plan: 80 Megafone und 80 MP3-Player, die sie in der ganzen Stadt versteckten, auf Dächern und Bäumen, in Mülleimern und Abwasserkanälen. An einem Morgen im Dezember hörte man plötzlich überall in Damaskus denselben Song in Schleife: das Widerstandslied „Mawtini“ („Meine Heimat“). Assads Sicherheitskräfte mussten im Müll wühlen, um den Protest zu beenden.
Zaino und andere Oppositionelle übten weiter Widerstand: Sie färbten das Brunnenwasser in Damaskus mit Lebensmittelfarbe rot. Sie hängten Parolen an Luftballons und ließen sie steigen. Sie bedruckten Tausende Tischtennisbälle mit Wörtern wie „Freiheit“ und ließen sie von einem Hügel rollen. 2012 floh Zaino nach Frankreich, wo er bis heute lebt. „Wenn du nicht mit Waffen sprechen willst, musst du eine andere Sprache finden“, sagte er einem Magazin.
Votes “R“ Us in Russland (2012)
Sie waren nur wenige Zentimeter groß und genau deshalb ein Problem für die russische Polizei: Kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2012 tauchten in der sibirischen Stadt Barnaul plötzlich Dutzende Lego-Menschen, Teddybären, Sammelfiguren der Serie „South Park“ und andere Spielzeugwesen auf. In ihren Plastikhänden und Stoffpfoten hielten sie kleine Schilder. „Ich bin für saubere Wahlen“. Oder: „Diebe gehören ins Gefängnis, nicht in den Kreml“.
Aktivisten hatten sie wie bei einer echten Demo aufgestellt. Weil ihnen die Regierung das Protestieren verbot. Die Polizisten wussten nicht, wie sie mit den kleinen Männchen umgehen sollten – und dokumentierten den Protest erst mal akribisch. Fotos der Minidemo gingen um die Welt und fanden Nachahmer in anderen russischen Städten. Schließlich sprach der Kreml ein Versammlungsverbot für unbelebte Gegenstände aus.
Wenige Wochen später gewann Wladimir Putin die Präsidentschaftswahlen. Laut den Wahlbeobachtern der OSZE gab es bei der Stimmenauszählung in jedem dritten Wahllokal Unstimmigkeiten.
Tea time in Hongkong (2020)
Wie kämpft man gemeinsam für Demokratie, wenn einen Hunderte Kilometer trennen? Aktivisten aus Hongkong, Thailand und Taiwan taten das mit: Memes.
Aber von vorn. China ist ein Einparteienstaat. Die Medien werden zentral gesteuert, Websites zensiert, auf Kritik an der Regierung droht eine Gefängnisstrafe. Hongkong soll als Sonderverwaltungszone eigentlich „weitgehend“ unabhängig vom Zugriff der chinesischen Führung sein, seit Jahren werden die Freiheiten dort aber immer stärker eingeschränkt. Dagegen gingen die Menschen in Hongkong 2019 und 2020 massenhaft auf die Straße. Angespannte Beziehungen mit China kennt auch Taiwan gut, das von China als „abtrünnige Provinz“ angesehen wird. In Thailand wiederum begehrten 2020 junge Menschen gegen die dortige Militärregierung und gegen das Königshaus auf.
Als chinesische Trolle im April 2020 einen beliebten thailändischen Schauspieler mit Hass überzogen (weil der ein Foto gelikt hatte, das Hongkong als eigenes Land bezeichnet), holten junge Menschen aus den drei Ländern zum Gegenschlag aus. Sie überzogen die Accounts der chinesischen Regierung mit Witzen und Memes. Die Aktivisten begannen, sich abzustimmen, um voneinander Protest zu lernen. Für diesen Zusammenhalt stand vor allem ein Meme: Drei Hände halten jeweils ein Getränk – Milchtee für Hongkong, Eistee für Thailand und Bubble Tea für Taiwan – in die Höhe und prosten sich zu. Die „Milk Tea Alliance“ war geboren. Inzwischen haben sich Aktivisten aus Ländern wie Myanmar, den Philippinen und Belarus angeschlossen.
A4Revolution in China (2022)
Und in China selbst? Dort sagt ein leeres Blatt Papier mitunter mehr als tausend Worte. Was damit begann, dass Präsident Xi Jingping den Ausnahmezustand in der Corona-Pandemie nutzte, um die Bevölkerung noch strenger zu überwachen und zu zensieren. So erhielt die Polizei direkten Zugriff auf die Daten der „Gesundheits-App“, die lange für jeden Chinesen verpflichtend war: ohne grünen Code kam man in kein Geschäft und keinen Bus. Die Regierung konnte so den Alltag ihrer Bürger regulieren, Regimekritikern wurde gern mal die App kurzerhand auf „Rot“ gestellt.
Zudem gab es immer wieder wochenlange strenge Lockdowns. Als Ende November 2022 bei einem Hochhausbrand in der Provinz Xinjiang mehrere Menschen starben, vermuteten viele in China, dass die Bewohner wegen der rigiden Corona-Maßnahmen nicht rechtzeitig gerettet werden konnten. Die schwelende Unzufriedenheit der Bevölkerung entlud sich plötzlich offen. Es waren die größten Demonstrationen, seit die Armee 1989 Studentenproteste um den Tian’anmen-Platz niedergeschlagen und, je nach Quelle, Hunderte oder gar Tausende Menschen ermordet hatte.
Auch jetzt demonstrierten die Menschen wieder gegen Zensur und für Demokratie. Ihre Methode aber hat sich geändert: In der Hoffnung, Festnahmen zu entgehen, hielten sie einfach weiße Blätter in die Luft. „Das weiße Papier symbolisiert alles, was wir sagen wollen, aber nicht sagen dürfen“, sagte ein Demonstrant der Nachrichtenagentur Reuters. Viele solidarisierten sich mit dem Hashtag #A4Revolution. Zwar schaffte es das Regime, die Proteste schnell einzudämmen. Gewirkt haben die anscheinend trotzdem: Am Wochenende hat die Regierung viele Corona-Maßnahmen gelockert.
Bonustrack: Röntgenschallplatten in der Sowjetunion (1947)
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Jazz, Blues oder Rock ’n’ Roll, die Musikgenres aus dem Westen, in der gesamten Sowjetunion verboten. In den Läden gab es keine Tonträger zu kaufen, der Schmuggel über die Landesgrenzen war gefährlich. Dann kam Ruslan Bogoslowskij – und mit ihm der „Rock auf den Knochen“. Tagsüber arbeitete Bogoslowskij in einem Zirkus, nachts tüftelte er an Erfindungen. 1947 schaffte er es, ein Aufnahmegerät zu bauen, das Musik direkt auf Schallplatten übertragen konnte. Das Problem: Es gab kein Material, um die Schallplatten zu pressen.
Im Archiv des Sankt Petersburger Krankenhauses (damals Leningrad) lagerten zu der Zeit Tausende alte Röntgenaufnahmen, die die Leitung unbedingt loswerden wollte: Brandgefahr! Bogoslowskij und seine Freunde nahmen das Material gern. Sie schnitten kreisrunde Löcher aus den Aufnahmen und spielten die Musik auf die Aufnahmen von gebrochenen Rippen und Schädelhöhlen.
Bogoslowskijs Erfindung verbreitete sich rasend schnell. Die Hochzeit der Röntgenplatten dauerte etwa 15 Jahre, während derer Bogoslowskij drei Mal für je drei Jahre in Haft saß – und trotzdem weitermachte. Damit die, die wollten, auch in der Sowjetunion Chuck Berry oder Elvis hören konnten.
Illustration: Renke Brandt