Es ist nicht so, als hätte der Komiker Wolodymyr Selenskyj keine Konkurrenz gehabt, als ihn die Ukrainer im Mai 2019 zum Präsidenten wählten. 39 Kandidatinnen und Kandidaten traten an – so viele wie noch nie seit der ukrainischen Unabhängigkeit im Jahr 1991. Trotzdem holte Selenskyj mit 30,2 Prozent fast doppelt so viele Stimmen wie der Zweitplatzierte. Und das war nicht irgendwer, sondern der da noch amtierende Präsident Petro Poroschenko. Weil weder Selenskyj und noch viel weniger Poroschenko die absolute Mehrheit hatten, mussten beide in die Stichwahl. Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können.
Poroschenko war 2014 nach den Euromajdan-Protesten ins Amt gewählt worden. Er sollte die Annäherung an die EU vorantreiben, tat dies sogar teilweise auch. Ukrainische Staatsbürger können zum Beispiel seit 2017 ohne Visum in die EU einreisen. Kritikern war das jedoch zu wenig.
Die Macht der Oligarchen
Im politischen System der Ukraine hat das Amt des Präsidenten große Bedeutung. Der Präsident schlägt Ministerpräsident, Verteidigungs- und Außenminister vor – er bildet quasi die Regierung und kann sie auch wieder entlassen. Kritiker warfen Poroschenko vor, diese Macht zu wenig genutzt zu haben, um die in der Ukraine vorherrschende Korruption zu bekämpfen. Dasselbe galt für die Einschränkung der Macht der Oligarchen.
Timm Beichelt, Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), beobachtet die Ukraine schon lange. Er sagt: „Auch in der Sowjetunion gab es ein erhebliches Maß an Korruption. Die Oligarchen sind eine Folge daraus.“ Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei der Staatsbesitz neu verteilt worden. Es habe Männer gegeben, die kauften ihr Imperium für vergleichsweise wenig Geld zusammen. Andere nahmen es sich mit (Waffen-)Gewalt. „Es gab damals keine gesellschaftliche und gesetzliche Macht, um diese Konzentration zu verhindern“, so Beichelt. Erst im Jahr 1996 verabschiedete die Ukraine eine eigene Verfassung.
Von Anfang an übten Oligarchen großen Druck auf die Politik aus, viele gründeten Medienunternehmen. Einige Oligarchen gingen direkt in die Politik. Poroschenko war einer von ihnen. Und außerdem war er laut dem Magazin „Forbes“ 2021 der siebtreichste Mensch in der Ukraine. Sein Spitzname ist „Schokoladenkönig“, weil ihm ein Süßwarenunternehmen gehört. Milliardär wurde er aber auch durch Beteiligungen an Rüstungs-, Automobil- und Medienunternehmen. Poroschenko stand für das alte System, das viele Ukrainer überwinden wollten. Wolodymyr Selenskyj, damals noch ein Politikneuling, stand für das Neue. Die Stichwahl gewann Selenskyj mit 73,2 Prozent. So hoch wie noch keiner vor ihm. Wolodymyr Selenskyj kam aber nicht aus dem Nichts. Timm Beichelt sagt: „Sicher kann man ihn als Komiker bezeichnen, aber als einen, der sich an ernsten Missständen in der ukrainischen Gesellschaft abgearbeitet hat.“
Selenskyj absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften. Bekannt wurde er im Jahr 2006, als er die ukrainische Version von „Let’s Dance“ gewann. Er war auch die ukrainische Synchronstimme von Paddington Bär. Gleichzeitig leitete er mehrere Fernsehsender und eine TV-Produktionsfirma, die er zusammen mit Freunden gegründet hatte. Manche von ihnen gehören noch heute zu seinen engsten politischen Vertrauten.
Das Video, das Putin nie verziehen hat
Im Jahr 2014 verurteilte Selenskyj öffentlich die russische Annexion der Krim. Kurz darauf thematisierte er in einem Sketch das Verhältnis von Wladimir Putin zu einer Sportlerin. Putin soll ihm das nie verziehen haben.
Dann, im Jahr 2015, kam „Diener des Volkes“ ins Fernsehen. In dieser Serie (es gibt drei Staffeln) spielt Selenskyj einen Geschichtslehrer, der mehr oder weniger durch Zufall zum Präsidenten der Ukraine wird. Selenskyjs Figur kämpft für einen EU-Beitritt und gegen Korruption. Sein Gegenspieler ist ein mächtiger Oligarch.
Laut Timm Beichelt habe er sich von dieser Figur auch im Wahlkampf kaum gelöst. Dort seien die Versprechen dieselben gewesen, plus: Selenskyj habe für einen „zivilen Patriotismus“ geworben, ein Nationalgefühl.
Warum warb er dafür? Kurzer Rewind der ukrainischen Geschichte: Dass es überhaupt einen ukrainischen Staat gibt, ist nicht selbstverständlich. Das heutige Gebiet war im Laufe der Geschichte Bestandteil von vielen verschiedenen Staaten. Sogar die Sisi aus Wien war einmal Kaiserin über die Westukraine. Lwiw hieß damals Lemberg. Trotzdem gab es immer wieder Versuche, einen eigenständigen ukrainischen Staat zu schaffen, so im Jahr 1919. Der existierte jedoch nur wenige Jahre, bevor ihn die Sowjetunion 1922 eingliederte. In den folgenden Jahrzehnten versuchte die sowjetische Führung dann, die Ukraine zu russifizieren. Wladimir Putin verfolgt ähnliche Ziele. Als seine Truppen in die Ukraine einfielen, sprach er der Ukraine das Existenzrecht ab.
„Putin hat durch seine aggressive und gewaltsame Politik bewirkt, dass aus vielen verschiedenen Identitäten schließlich eine wurde: die ukrainische“, so Timm Beichelt. Viele Ukrainer wollen nicht zu Russland gehören. Sie wollen sich ihren Staat nicht nehmen lassen. Das sei auch der Grund, warum die Ukraine immer liberaler, westlicher und demokratischer wurde, während sich andere ehemals sowjetische Staaten, wie Belarus, Tadschikistan oder Russland selbst, in die entgegengesetzte Richtung entwickeln.
Dezentralisierung als Schlüssel
Wie sich die Ukraine demokratisierte, zeigt ein Beispiel: Sie wurde ein immer dezentraleres Land. Das heißt, die Macht konzentrierte sich nicht auf die Regierung in der Hauptstadt Kyjiw, sondern verlagerte sich hin zu den Gemeinden. Diese Entwicklung gibt es erst richtig seit 2014.
Das hat zwar schlechte Seiten, die Zentralregierung hat zum Beispiel weniger Einfluss, sollten zum Beispiel prorussische oder rechte Bürgermeister gewählt werden. Andererseits ist eine Verteilung von Macht ein gutes Zeichen für Demokratie. In Deutschland gibt es nicht umsonst den Föderalismus. Timm Beichelt sagt es so: „Als Putin 1999 in Russland an die Macht kam, hat er sofort die Macht zentralisiert. Das Gegenteil passiert gerade in der Ukraine.“
Ein kleiner Sidefact: Um seinen Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen, behauptete Wladimir Putin, er würde die Ukraine von „Nazis“ befreien. Dabei scheiterte die rechte Swoboda-Partei an der Fünfprozenthürde, auch wenn sie einen Sitz im Parlament hat. Die absolute Mehrheit im Parlament hat Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“. Genau, sie heißt wie die Serie.
Noch immer ist Korruption ein großes Problem. Aber innerhalb weniger Monate wurde unter Selenskyj die Antikorruptionsinfrastruktur ausgebaut. Zwischen 2019 und 2021 hat das Nationale Antikorruptionsbüro 381 Anklagen wegen Korruption auf hoher Ebene erhoben. 57 Personen wurden vom Obersten Antikorruptionsgericht wegen Korruption verurteilt. Im September 2021 verabschiedete das Parlament ein Anti-Oligarchen-Gesetz, sie müssen nun ihre Vermögenswerte offenlegen und dürfen Parteien nicht mehr finanziell unterstützen.
Geht es in der Ukraine nun zu wie im Märchen? Natürlich nicht. Kritiker bezeichnen Selenskyjs Regierungsstil als konfrontativ und wenig diplomatisch. Sein Name tauchte außerdem in den Pandora Papers auf. Er soll sein Medienunternehmen in einer Steueroase angemeldet haben. Selenskyjs Stand war, laut Umfragen, Ende 2021 kein leichter. Bei den meisten Ukrainern war er unten durch. Dann kam der Krieg.
Seitdem herrscht Ausnahmezustand. Selbst politische Rivalen stehen nun hinter Wolodymyr Selenskyj. „Die Ukraine ist eine junge Demokratie. Sie hat alle Voraussetzungen, um sich langfristig zu etablieren“, meint Timm Beichelt.
Alles, was sie braucht, ist eine Chance.
Titelbild: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images