„Die Teams ‚Kein Rassismus‘ und ‚VfL Osnabrück‘ bitte zur ersten Halbzeit in den Besprechungsraum“, hallt es aus den Lautsprechern. Saber Silo wartet schon. Der 17-Jährige ist mitverantwortlich dafür, dass ein ungewöhnliches Fußballturnier an der Möser-Realschule in Osnabrück normal abläuft. „Hört zu“, bittet Saber die Schüler:innen, die quatschend in den Besprechungsraum strömen. Er zeigt auf eine Reihe DIN-A3-Karten, die auf dem Boden liegen. „Nach welchen Regeln wollt ihr spielen?“
Ein Kind meldet sich und deutet auf eine der Karten: „Alle spielen mit“, steht darauf. „Alle einverstanden?“, fragt Saber. Nicken. „Ich will, dass wir niemanden in die Ecke drücken“, ruft ein anderes Kind und zeigt auf eine zweite Karte. Gemecker bricht aus. „Daran hält sich sowieso keiner.“ „Die tun alles, um zu gewinnen.“ Saber beschwichtigt: „Es geht nicht ums Gewinnen. Es soll Spaß machen.“ Dann pfeift jemand in der Turnhalle zum Anstoß; die zweite Halbzeit beginnt.
Football3 heißt das Konzept, nach dem hier gespielt wird. Der Sport- und Sozialwissenschaftler Jürgen Griesbeck entwickelte es 1996, inspiriert vom Straßenfußball im kolumbianischen Medellín. Er veranschlagte drei Drittel statt zwei Halbzeiten, nur in einem davon wird gekickt, und im ersten legen die Spieler:innen selbst die Regeln fest. Im letzten Drittel vergeben sich die Teams gegenseitig Fair-Play-Punkte, die für den Sieg zählen. Wer am fairsten spielt, hat also größere Chancen zu gewinnen. Schiedsrichter:innen gibt es nicht, die Mannschaften werden nicht nach Geschlechtern getrennt.
Fußball war nicht immer so
Football3 vermittelt einen ganz anderen Fußball, als er sonst auf den Plätzen der Welt gespielt wird. In dem gibt es zwei gleichgeschlechtliche Teams, zwei Tore, einen Ball und ein Ziel: den Ball öfter ins gegnerische Tor zu schießen als der Gegner. Trainer:innen rufen vom Rand rein, Schiedsrichter:innen verteilen Strafen nach Regeln, die am Spieltag unveränderlich feststehen.
Millionen Menschen feiern diesen Sport, Fußball vereint Menschen verschiedenster Klassen. Er ist vielleicht der beliebteste, auf jeden Fall der präsenteste Sport der Welt. Für manche gibt es am konventionellen Fußball einen Haken: Seine Regeln seien mehr als nur technische Vorgaben; sie spiegelten die patriarchalen und kapitalistischen Strukturen unserer Gesellschaft wider. Fußball ist ein Wettbewerb. Er konzentriert sich auf Siege, im besten Falle als Summe individueller Erfolge. Wer viel leistet und sich durchsetzt, wird belohnt, auch wenn er Sexualstraftäter, Steuerhinterzieher oder Fundamentalist ist. Diese Maskulinität prägt auch ein Körperbild, das queere, weibliche und Körper mit Behinderungen immer noch benachteiligt.
Dass Fußball ganz anders aussehen könnte, ist kein neuer Gedanke. „Viele wissen gar nicht, dass Fußball nicht immer so war“, sagt Alina Schwermer. Die Sportjournalistin hat die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Missstände im Fußballsystem in einem Buch geschildert. „Futopia“ stellt auch Möglichkeiten vor, den Sport gerechter zu gestalten. „Fußball wird seit über 2.000 Jahren gespielt, vielleicht noch viel länger“, schreibt Schwermer, „und er war dabei so unterschiedlich, wie Gesellschaften verschieden sind.“
Sie erzählt von Kreisballspielen in Südostasien, in denen Spieler:innen den Ball gemeinsam so lange wie möglich in der Luft halten müssen, sich gute Leistungen also durch gegenseitige Solidarität einstellen. Oder vom angehenden Mittelalter in England. Ganze Dörfer traten gegeneinander an, recht ungestüm und gewaltvoll, aber eben auch ohne Regeln oder Positionen auf dem Feld. Nicht mal die Ergebnisse wurden festgehalten. Später spielten europäische Adelige Ballsportarten, die ganz auf Rhythmus, Manieren und Proportion ausgelegt waren, nicht auf körperliche Hochleistung. Oft sei historisch nicht zwischen Geschlechtern unterschieden worden, sagt Schwermer.
Fußball mit vier Toren oder im Hexagon, mit Humor und ohne Ziel
Die Regeln, nach denen heute weltweit Fußball gespielt wird, wurden erst 1863 an der Cambridge University entworfen. Heute suchen verschiedene soziale Bewegungen – darunter Arbeiter:innen, Feminist:innen oder Bildungsentwickler:innen – Alternativen zum vorherrschenden Fußballkonzept.
• Eine ist Football3, die Variante, die an der Osnabrücker Realschule gespielt wird: Die Spieler:innen treten in gemischten Teams an und handeln die Regeln gemeinsam aus.
• Beim Integrated Football spielen Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam – auf vier Tore. Je nach Spielfähigkeiten werden ihnen bestimmte Rollen zugeteilt. Die schreiben vor, was den Spieler:innen erlaubt ist; einige dürfen nur auf bestimmte Tore zielen, andere nicht in Zweikämpfe gehen mit Personen, die eine andere Rolle innehaben.
• Im Jugendfußball entstehen immer mehr Fair-Play-Ligen. Schiedsrichter:innen gibt es nicht, die Trainer:innen müssen sich gemeinsam in einer Zone aufhalten, die Eltern 15 Meter Abstand zum Spielfeld halten: Die Kinder sollen sich auf dem Platz selbst verständigen, ohne Druck von draußen.
• Der sogenannte Dreiseitenfußball will die übliche Binarität des Fußballs dekonstruieren, indem drei statt zwei Teams gegeneinander antreten. Und zwar im Hexagon. Das Team, das die wenigsten Tore zulässt, gewinnt. Für erfolgreiche Angriffe müssen die Teams Bündnisse schließen und sich anschließend wieder in den Rücken fallen. „Das bildet unsere komplexe Gesellschaft, in der es selten die eindeutig Guten und die Bösen gibt, viel realistischer ab“, sagt Alina Schwermer.
Schwermer hat auch eigene Ideen für neue Fußballkonzepte. Kooperative Spielformen, in denen Teams gemeinsame Ziele anstreben. Oder Überraschungsfußball: Team A überlegt sich ein Spielziel, etwa möglichst viele Eckbälle, oft die Latte treffen oder möglichst viele Räder schlagen. Team B weiß nichts davon. Es muss herausfinden, was passiert. In der Halbzeit wird gewechselt. „Das könnte Humor einbringen, der Fußball ist ja sonst sehr ernsthaft“, sagt Schwermer.
Auch Fußball ohne jedes Ziel kann sie sich vorstellen. „Wie wäre es mit einem Themenparcours, den Teams gemeinsam mit dem Ball am Fuß durchlaufen, oder einem Impro-Theaterstück auf dem Spielfeld, das mit dem Ball arbeitet?“ Das Ziel wäre nicht mehr Gewinnen, sondern ein schönes Spiel.
Wettbewerb und Gerechtigkeit vereinbaren
Wenn Schwermer solche Ideen auf Lesungen vorschlägt, reagieren einige Zuhörer:innen empört. „In fast jeder Runde steht jemand auf und sagt: Aber Wettbewerb ist doch das Herzstück des Spiels. Das können wir nicht abschaffen.“ Auch Trainer:innen, die Überraschungsfußball oder Dreiseitenfußball ausprobieren, berichten, dass sie bei den Spieler:innen auf Widerstand stoßen. „Viele sind so in diesem Leistungsdenken verankert, dass sie alles Abweichende als Nonsens empfinden“, sagt Schwermer.
Auch Saber Silo muss den Schüler:innen in Osnabrück immer wieder erklären, dass es beim Turnier nicht nur um Wettbewerb geht. „Die wollen erst mal nur spielen“, sagt er. „Auf das Gerede haben sie keine Lust.“
Dass Menschen ihre Leistungen messen wollen, finden beide legitim. Doch müssen wir deswegen einen Fußball spielen, der viele strukturell benachteiligt, der Werte wie Kooperation, Mitsprache und Kreativität unterminiert?
Manchmal lässt sich schon beobachten, dass alternative Fußballkonzepte Wettbewerb mit demokratischen, inklusiven Werten vereinen kann. Als sich die Teams „Kein Rassismus“ und „VfL Osnabrück“ nach dem Abpfiff in Osnabrück zur dritten Halbzeit versammeln, fehlen zwei Spieler:innen des VfL. „Die sind genervt, weil wir verloren und die anderen so oft gefoult haben“, sagt ein Schüler. Saber bittet das Team, die Mitspieler:innen zu holen. „Wir haben miteinander gespielt, jetzt müssen wir miteinander reden“, sagt er. Das will erst mal niemand, die Gemüter sind erhitzt. Aber zuletzt einigen sich die Teams, einander jeweils zwei Fair-Play-Punkte zu geben. „Sie haben sich an alle Regeln gehalten, außer daran, niemanden in die Ecke zu drücken“, erklärt jemand. Team „Kein Rassismus“ jubelt. Sie haben gewonnen: mit 3:2 Toren und 2:2 Fair-Play-Punkten.
Die Autorin dankt dem Team von KickFair e.V. für die Unterstützung bei der Recherche und die Möglichkeit, am Turnier in Osnabrück teilzunehmen.
Unser Titelbild zeigt eine Frühform des heutigen Fußballs auf einem Kupferstich. (Foto: Rischgitz/Getty Images)