Montag, 11. September: Nachdem es gut eine Woche gestürmt hat, schicken Schlepper 112 Boote auf einmal in Richtung Lampedusa. Im Laufe der darauffolgenden Tage sollen mehr als 10.000 Menschen auf der italienischen Insel, die näher bei Nordafrika als bei Sizilien liegt, ankommen. Dienstag, 12. September: Mehr als 5.000 Menschen gehen an Land, laut dem Migrationsforscher Matteo Villa die vierthöchste je verzeichnete Zahl – in etwa so viele, wie die Insel Einwohner zählt. Das Auffanglager in Lampedusa, auch Hotspot genannt, das für etwa 400 Menschen ausgelegt ist, ist völlig überlaufen. Mehrere Tage lang ziehen Hunderte Migranten auf der Suche nach Lebensmitteln ins Dorf.
Viele Einwohner und Touristen helfen, wo sie können, manche haben aber auch Angst. Ordnungskräfte sind auf den Straßen nicht zu sehen. Sonntag, 17. September: Italiens Premierministerin Giorgia Meloni und die Präsidentin der EU-Kommission Ursula van der Leyen verkünden auf Lampedusa einen Zehn-Punkte-Plan im Kampf gegen illegale Migration und Schlepperei. Der sieht unter anderem eine verstärkte Überwachung auf See und aus der Luft vor.
Migrationsexperten sehen im Chaos auf Lampedusa keine Migrationskrise für Italien, sondern eher ein logistisches Problem. Die Ankünfte von Bootsflüchtlingen in Italien seien in den Jahren 2015 und 2016 höher gewesen, dennoch gab es damals auf Lampedusa keine chaotischen Zustände, sagt etwa Flavio Di Giacomo von der Internationalen Organisation für Migration. Die meisten Migranten seien damals von der Küstenwache und NGO-Schiffen im Meer aufgenommen und direkt aufs italienische Festland gebracht worden. Nur acht Prozent von ihnen seien über Lampedusa gegangen, während es heute etwa 70 Prozent seien.
Auch die Inselbewohner sind von den Plänen der Regierung – es kursieren Gerüchte über ein neu zu errichtendes Zeltlager auf Lampedusa – nicht überzeugt, es gab Proteste und Kundgebungen. Wir haben vor Ort Stimmen gesammelt – von besorgten Inselbewohnern bis hin zu den Menschen, für die Lampedusa das Ziel einer langen und gefährlichen Reise war.
„Es geht darum, sicherzustellen, dass die Menschen, die hier ankommen, so bald wie möglich ihre Weiterreise in Richtung Festland antreten können“
Francesca Basile, Verantwortliche für das Einsatzfeld Migration beim Italienischen Roten Kreuz (40)
Die letzten zwei Wochen waren für uns sehr anstrengend. Es ging nicht nur darum, 7.000 Menschen mit Mahlzeiten zu versorgen, sondern auch darum, ihnen die Regeln im Hotspot zu erklären, den Tagesablauf, die Zuweisung von Schlafstellen, wie lange sie bleiben müssen, wer wann weiterreisen darf. Es gab zu jedem Zeitpunkt genug zu essen und zu trinken, aber die Tatsache, dass die Ankünfte so sprunghaft angestiegen waren und die Transfers nach Sizilien nur schleppend vorangingen, hat es uns erschwert, die Menschen so zu versorgen, wie es unser Anspruch ist. Die Wartezeiten waren lang, das Lager war überfüllt. Viele haben es deshalb vorgezogen, ins Dorf zu gehen, um sich selbst zu versorgen. Inzwischen ist die Situation entspannter, die Neuankünfte und Transfers nach Sizilien halten sich wieder die Waage. Doch wie verhindern wir solche Situationen in der Zukunft? Eine Vergrößerung des Hotspots kann meiner Meinung nach angesichts der beschränkten Kapazitäten auf der Insel keine Lösung sein. Ich denke, es geht darum, sicherzustellen, dass die Menschen, die hier ankommen, so bald wie möglich ihre Weiterreise in Richtung Festland antreten können.
„Menschen wie ich, die in Libyen keine Familie haben, sind dort nicht sicher. Viele werden gekidnappt“
Abd Rahman*, Bauarbeiter aus Ghana (20)
Ich habe Ghana mit 15 Jahren verlassen. Mein Vater ist früh gestorben, meine Mutter musste uns allein versorgen. Sie, meine zwei Brüder und ich haben große Not gelitten. In Ghana gab es nur wenig Arbeit, wenig Perspektiven, deshalb bin ich als Jugendlicher nach Libyen ausgewandert. Obwohl sich das Land im Bürgerkrieg befindet, gibt es dort viele Jobs. Vier Jahre habe ich in Libyen auf dem Bau gearbeitet. Ich wäre auch länger geblieben, aber ich hatte Angst. Menschen wie ich, die in Libyen keine Familie haben, sind dort nicht sicher. Viele werden gekidnappt, um von den Familien im Herkunftsland Lösegeld zu fordern. Deshalb beschloss ich, Geld zu sparen und die Überfahrt nach Europa zu wagen. Ich bin gerade sehr glücklich, dass ich die Reise geschafft habe. Zuerst mussten wir nach Tunesien, von dort kamen wir mit einem kleinen Metallboot nach Lampedusa. Vier Tage war ich im Camp auf Lampedusa, jetzt geht es weiter nach Sizilien. Es waren sehr viele Menschen da, aus den verschiedensten Ländern. Ich habe gehört, dass es nicht alle gut finden, dass so viele Migranten nach Europa kommen. Aber ich mag Italien, die Menschen, die uns im Camp betreut haben, waren freundlich zu mir. Mein Wunsch ist es, hier bald eine Arbeit zu finden. Ob als Bauarbeiter oder Handwerker, das ist mir egal. Die Hauptsache ist, gesund zu sein und eine Arbeit zu haben.
„Das internationale Seevölkerrecht sieht vor, Personen, die sich in Seenot befinden, unabhängig von ihrer Hautfarbe oder Herkunft zu retten“
Totò Martello, ehemaliger Bürgermeister von Lampedusa (67)
Wer sind die Lampedusaner? Einmal sieht man uns als selbstlose Retter und Altruisten, ein anderes Mal als Rassisten. In Wirklichkeit ist die Sache sehr einfach: Wir sind in erster Linie ein Fischervolk. Das internationale Seevölkerrecht – oder wie wir es nennen: das Gesetz des Meeres – ist bindend und sieht erstens vor, Personen, die sich in Seenot befinden, unabhängig von ihrer Hautfarbe oder Herkunft zu retten, und zweitens, sie zum ersten sicheren Hafen zu bringen. Ich habe deshalb im Jahr 2019, als ich Bürgermeister von Lampedusa war, gegen ein Dekret des damaligen Innenministers Matteo Salvini gehandelt, das es NGO-Schiffen mit Flüchtlingen an Bord praktisch untersagte, im Hafen von Lampedusa an Land zu gehen. Wir Lampedusaner haben unseren Beitrag zur Aufnahme von Migranten geleistet und werden dies auch weiterhin tun. Wenn wir heute protestieren, tun wir das also nicht gegen Migration, sondern weil uns die italienische Regierung und die EU völlig allein gelassen haben. Mitte September sind Tausende Menschen auf Lampedusa an Land gegangen, und wir haben ihnen wieder geholfen und sie mit Essen und Kleidung versorgt. Aber wir sind eine kleine Gemeinschaft, die vom Tourismus und vom Fischfang lebt.
Die Bilder, die in die Welt gegangen sind, schrecken die Touristen ab und bedrohen deshalb auch unsere Lebensgrundlage. Jetzt will die italienische Regierung „das Problem lösen“, indem sie auf der Westspitze von Lampedusa zuerst eine Zeltstadt und später ein neues Lager errichten will, in dem über 5.000 Migranten bis zu 18 Monate festgehalten werden sollen – praktisch so viele Menschen, wie die Insel Einwohner hat. Wir protestieren gegen dieses völlig irre Projekt, das die Menschenrechte der Migranten verletzen und die Lampedusaner in die Knie zwingen würde.
„Manche hier sind gegen die Migranten, sie sagen, es sind zu viele und dass wegen ihnen die Touristen nicht mehr kommen. Aber ich fühle mich ihnen nahe“
Nicola Costa, Inselbewohner (53)
Ich wohne direkt am Meer, in einem kleinen Verschlag mit Garten, den ich mir auf den Klippen gepflanzt habe. Wenn die Migranten nachts kommen, erkenne ich es am Motorgeräusch ihrer Boote. Tunesische Motoren sirren, italienische brummen. Manche hier sind gegen die Migranten, sie sagen, es sind zu viele und dass wegen ihnen die Touristen nicht mehr kommen. Aber ich fühle mich ihnen nahe: Auch sie nutzen ihre Bewegungsfreiheit. Doch die Natur, die ich so liebe, ist für sie bedrohlich, und viele sterben im Meer. Die Klippen in diesen Tagen sind voll von ihren Hinterlassenschaften, Kleider, Notizblöcke, Rucksäcke, Sardinendosen, Kuscheltiere, Babyschnuller. Ich sammle sie. Wenn diese Sachen in der Natur herumliegen, sind sie Müll. Aber wenn ich sie mit nach Hause nehme, werden sie zu Erinnerungsstücken, die von den Menschen erzählen, die diese Dinge benutzt haben. Mein Garten ist zu einem kleinen Museum geworden. Neulich hat eine Freundin zu mir gesagt, ich solle dieses Gerümpel endlich wegschmeißen. Aber das bringe ich nicht übers Herz.
„Wenn du ein großes Ziel hast, beißt du die Zähne zusammen und versuchst es“
Hadischa*, Psychologin aus Marokko (32)
Ich habe in Marokko Psychologie studiert und viel mit Kindern gearbeitet, vor allem in der Betreuung von Kindern mit Autismus. Aber in Marokko gibt es in diesem Bereich so gut wie keine Jobs, die Regierung gibt für die psychische Gesundheit der Menschen kein Geld aus. Die wenigen Jobs bekommen Menschen, die gute Kontakte haben, nicht die Qualifizierten. Meistens habe ich mich deshalb mit kleinen Gelegenheitsaufträgen durchgeschlagen. Es war irgendwann klar für mich, dass ich dort keine Zukunft habe.
Für die Überfahrt nach Lampedusa musste ich 3.500 Dollar zahlen. Im Boot war ich die Einzige aus Marokko. Als ich mich mit all diesen Menschen in das kleine Metallboot gesetzt habe, wusste ich, dass es gefährlich ist. Aber wenn du ein großes Ziel hast, beißt du einfach die Zähne zusammen und versuchst es, komme, was wolle. Vor drei Tagen bin ich dann in Lampedusa angekommen. Im Camp waren sehr viele Menschen, aber rausgehen durfte niemand. In Italien leben schon mehrere Verwandte von mir, Onkel und Tanten. Sie leben in verschiedenen Städten, Rom, Mailand, Bergamo, Sizilien. Sie haben mir erzählt, dass Italien ein gutes Land ist, die Menschen sollen wie in Marokko sein, aufgeschlossen und freundlich, aber es gibt mehr Arbeit. Noch weiß ich nicht genau, wohin ich ziehen werde, mein Plan ist es, als Erstes fleißig Italienisch zu lernen und mich dann in meinem Job weiterzubilden.
*Beide Geflüchteten wollten ihre Nachnamen nicht online veröffentlicht wissen