Seit 1994 besucht der französische Fotograf Éric Vazzoler regelmäßig die Ukraine. Vor allem den Donbass. Als 2014 der Konflikt um die Region ausbrach, startete er sein Projekt „Pics for Peace“: Jugendliche auf beiden Seiten der Frontlinie sollen in den kostenfreien Workshops das Fotografieren lernen.
Auch nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges kehrt der Fotograf in die Region zurück. Er besucht Mariupol, die lange stark umkämpfte Hafenstadt, die heute von Russland kontrolliert wird. Im Januar 2023 organisiert er in der von den Zerstörungen der Angriffe noch fensterlosen Universität seinen Foto-Workshop: 15 junge Frauen und Männer nehmen teil. Während des Kurses und in den folgenden Monaten halten sie mit geliehenen Kameras den Alltag in der Stadt fest. Ihre Bilder liefern Einblicke in ihr Leben und einen vorsichtigen Neustart.
„Indem ich meine Welt fotografisch festhalte, lerne ich, eine notwendige Distanz einzunehmen“
Alexander Zhezhoma, 23 Jahre
Schon während meiner Ausbildung zum Schweißer und Kfz-Mechaniker habe ich mir eine Kamera gekauft und begonnen, mir selbst das Fotografieren beizubringen. Als Hobby. In Érics Kurs wollte ich gucken, was ich draufhabe, und habe endlich wieder Lust aufs Fotografieren bekommen. Die hatte ich während der langen Zeit der Belagerung der Stadt und ihrer Zerstörung nach dem russischen Überfall im Februar 2022 verloren.
Éric bat uns, überall dort zu fotografieren, wo es in Mariupol Hoffnung gibt. Zugegeben, ich zögerte, die Menschen so zu fotografieren, dass man sie erkennt. Ich wollte sie nicht um Erlaubnis fragen, weil ich befürchtete, dass sie misstrauisch mir gegenüber werden könnten. Stattdessen fotografierte ich Gebäude, kleine Zeichen des Wiederaufbaus und freundliche Gesten wie einen drapierten Gedichtband oder Rosen an einer Hauswand.
Ich wurde Zeuge des Horrors und Chaos des Krieges: Plünderungen, Verletzte, Tote. Ich habe dem Konflikt gegenüber immer eine neutrale Haltung eingenommen. Ich habe weder etwas gegen die Ukraine noch gegen Russland. Ich glaube aber, dass die Politik der ukrainischen Regierung auch zu diesem Konflikt beigetragen hat. Indem ich meine Welt, so wie sie ist, fotografisch festhalte, lerne ich, den Dingen gegenüber eine notwendige Distanz einzunehmen.
„Ich nahm in meiner Heimatstadt plötzlich ganz andere Dinge wahr“
Ewelina Wakhnowa, 18 Jahre
In der Schule habe ich einen Fotografiekurs belegt, aber ich hatte keine eigene Kamera, um danach eigenständig weiterzuüben. Diese Chance ergab sich, als Éric uns an der Uni besuchte. Er lieh jedem von uns eine Kamera.
Ich versuchte bereits, die Welt in all ihren Farben zu genießen, aber dieser Workshop hat meinen Horizont erweitert. Ich nahm in meiner Heimatstadt plötzlich ganz andere Dinge wahr.
Zum Glück haben alle meine Verwandten und Freunde überlebt. Einige von ihnen sind in andere Länder gezogen, zum Beispiel nach Deutschland. Andere nach Belgien, Florida, Island und Griechenland. Ich bin froh, dass sie alle noch am Leben sind. Auch wenn es traurig ist, dass sie so weit weg sind, aber emotional sind wir uns immer noch sehr nahe.
Ich jobbe aktuell als Kellnerin, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und ich studiere Psychologie. Damit erfülle ich mir einen Traum. In der Zukunft, mit der psychologischen Ausbildung, kann ich mit Kindern arbeiten. Ich liebe Kinder, und für mich wird das ganz toll.
„Ich hatte nicht daran geglaubt, aber jeden Tag sehe ich nun, wie die Stadt auflebt: Die Menschen kommen zurück“
Olga Agarkowa, 19 Jahre
Ich wurde in Mariupol geboren. Hier studiere ich Rechtswissenschaften.
Ich war am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem die russische Offensive begann, in der Stadt. Ich bedaure, dass ich damals keine Kamera hatte, um Fotos von dem zu machen, was während der Bombardierungen passierte. Es gibt keine Worte, um das zu beschreiben. Viele Menschen haben die Geschichten gehört, aber sie haben keine Ahnung, wie es sich anfühlt, das mitzuerleben. Ich glaube, ich hätte den Mut dazu gehabt, es der Welt mit meinen Bildern zu zeigen.
Nachdem ich die Kämpfe überlebt hatte, wollte ich die abgebrannten Häuser, die menschenleeren Straßen, das Fehlen normaler Lebensbedingungen nicht mehr sehen. All das machte mich sehr traurig. Ich dachte, dass es besser wäre, an einen anderen Ort zu ziehen, am besten weiter weg von Mariupol. Ich hatte immerzu Angst, dass die Kämpfe wieder losgehen und wir diesmal die Bombenangriffe nicht überleben würden. Aber meine Mutter bestand darauf, dass wir in der Stadt blieben, und sagte, dass sie wiederaufgebaut würde.
Ich hatte nicht daran geglaubt, aber jeden Tag sehe ich nun, wie die Stadt auflebt: Die Menschen kommen zurück, sie gründen Familien und bekommen Kinder, neue Geschäfte werden eröffnet. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie Baumaßnahmen von solchem Ausmaß gesehen.
Ich habe an dem Workshop von Éric teilgenommen, weil ich es vermisst habe, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, und weil ich die Fotografie seit meiner Schulzeit liebe. Dank des Workshops habe ich neue Freunde gefunden, mit denen ich bis heute in Kontakt stehe. Nicht nur die Stadt blüht auf, auch ich selbst. Meine Freunde und ich haben viele Hindernisse überwunden, aber wir sind zusammen. Das macht mich glücklich.
Ich bin außerdem unendlich froh, dass alle in meinem Umfeld überlebt haben. Einige Verwandte gingen ins Ausland, um den Folgen des Krieges zu entkommen. Jetzt leben sie in Tschechien. Eine Freundin von mir ist nach Belgien gezogen. Auch ihr geht es gut. Ich hoffe, dass sich in Zukunft niemand mehr auf dem Schlachtfeld wiederfinden wird. Die Hauptsache ist, dass es Frieden gibt.
„Zwei Mörsergranaten fielen in unseren Garten. Ein Bombensplitter verletzte meine Schwester an der Leiste und mich einer im linken Schulterblatt“
Wladislaw Riasanzew, 12 Jahre
Meine Familie und ich sind Russen aus Donezk im Donbass. Als 2014 der Krieg ausbrach, entschieden sich meine Eltern, auf die ukrainische Seite zu flüchten, da sie glaubten, uns so dauerhaft in Sicherheit bringen zu können. Weil mein Vater aber später beschuldigt wurde, Informationen an die Separatisten weitergegeben zu haben, wurde er ein Jahr lang in einem ukrainischen Gefängnis inhaftiert. Seine gesundheitlichen Probleme nach seiner Entlassung machten das Leben für mich und meine vier Geschwister sehr schwer. Er kann bis heute nicht arbeiten.
Wir zogen schließlich nach Mariupol. Die russische Blockade der Stadt im Jahr 2022 ist mir in sehr schlechter Erinnerung geblieben. Zwei Mörsergranaten fielen in unseren Garten. Ein Bombensplitter verletzte eine meiner Schwestern an der Leiste und mich einer im linken Schulterblatt. Mein Bruder Walerij erlitt einen Schock und wurde ohnmächtig. Wir flüchteten drei Wochen lang in den Keller der Eisenbahnverwaltung der Stadt: 160 Personen ohne fließendes Wasser, ohne Licht und mit sehr wenig zu essen.
Ich lernte Éric kennen, als ich mit meinem besten Freund Nikita spielte. Éric schlug mir vor, an seinem Foto-Workshop teilzunehmen, was mir gut gefiel. Auch meine Eltern fanden es schön, dass ich wieder an Aktivitäten außerhalb unseres Hauses teilnahm.
Heute ist das Leben in die Stadt zurückgekehrt. Seit einem Jahr gehe ich in eine neue, moderne Schule. Trotzdem vermisse ich meine alte Schule, die durch die Kämpfe in unserem Viertel in der Nähe des Bahnhofs zerstört wurde. Zu meinem Geburtstag hat mir Éric die Kompaktkamera geschenkt, mit der ich fotografiere. Ich mag sie besonders, weil man damit auch unter Wasser fotografieren und filmen kann.
„Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass es wichtig ist, die Spuren der Zerstörungen und gleichzeitig den Wiederaufbauprozess unserer Stadt zu dokumentieren“
Michail Kosiniez, 18 Jahre
Als ich vom Foto-Workshop erfuhr, wusste ich sofort, dass ich daran teilnehmen wollte. Und es war wirklich toll! Mit der Kamera in der Hand habe ich ziemlich viel darüber gelernt, wie ich meine Umgebung sehe. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass es wichtig ist, die Spuren der Zerstörungen und gleichzeitig den Wiederaufbauprozess unserer Stadt zu dokumentieren. Auf diese Weise halten wir unsere Geschichte selbst fest. Später, wenn Frieden und Wohlstand zurückkehren, wird uns das helfen.
Wir waren eine Gruppe von Freunden, die an dem Workshop teilnahm. Wir haben zuvor auch schon bei Aktionen mitgemacht, um den Ärmsten der Armen nach dem Krieg zu helfen, oder Theatervorstellungen für Kinder mit Behinderungen organisiert.
Der Workshop begann im ersten Winter, nachdem die Stadt im Sommer von russischen Kräften eingenommen wurde. Das war eine schlimme Zeit: Zwar waren in der ganzen Stadt neue Fenster eingebaut worden, aber Heizungen gab es nicht überall und noch weniger Internet. Das Leben war grausam und ungewiss. Trotz der traumatischen Erlebnisse sind die Dinge heute besser. Ich konnte mein Studium wieder aufnehmen.
Der Foto-Workshop kam für mich genau zum richtigen Zeitpunkt – wie ein Zwischenspiel, ein Reset, um neu zu beginnen. Wenn es einen dauerhaften Frieden gibt, sehe ich Chancen für meine Zukunft.
Titelbild: Michail Kosiniez; Portraits: Éric Vazzoler