Thema – Technik

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Chip, Chip, hurra!

Hirn-Implantate sollen helfen, schwere Depressionen zu überwinden

Hirn-Implantat

In einem Büro des Freiburger Neurozentrums holt Volker Arnd Coenen ein goldenes Gestell vom Regal. Mit seinen Ringen und Scheiben erinnert es an ein Tischplanetarium, nur die Planeten fehlen. „Ein stereotaktischer Rahmen“, sagt Coenen, stellt das Gerät auf den Tisch und dreht an vier Schrauben, um einen Modellschädel zu fixieren. „Dieses System erlaubt mir, mit der Genauigkeit von einem Millimeter an jede Stelle des Gehirns zu kommen.“ Vorher muss er ein 14 Millimeter großes Loch in den Schädel bohren.

Coenen, 51, hellblauer Kittel, Professor und ärztlicher Leiter der Neurochirurgie an der Uniklinik Freiburg, forscht an einer Methode, die schwer Depressiven Hoffnung geben kann. Es sind Menschen, die seit Jahren an ihrer Krankheit leiden und denen gängige Behandlungen mit Medikamenten und Psychotherapie keine Linderung bringen.

Hauchdünne Elektroden regen Teile des Gehirns an

Bei dem neuen Verfahren setzt Coenen ihnen hauchdünne Elektroden ins Gehirn. Die sind mit einem Generator verbunden, der auf Brusthöhe unter die Haut implantiert wird, ähnlich einem Herzschrittmacher. Mit einem schwachen elektrischen Strom, zweieinhalb bis viereinhalb Milliampere, stimuliert der Generator einen Gehirnbereich, der für die Emotionen und Entscheidungen mitverantwortlich ist: das mediale Vorderhirnbündel. Die Behandlung nennt sich „Tiefe Hirnstimulation“.

Sie befindet sich noch im Experimentalstadium. Aber die bisherigen Ergebnisse seien vielversprechend, sagt Coenen. In einer Studie hätten sich die Beschwerden bei 12 von 16 Teilnehmenden deutlich gebessert. „Und es gibt eine Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln, dass sie nach der Behandlung keine Symptome mehr haben.“ Bis Herbst 2025 läuft an der Uniklinik eine Folgestudie mit 47 Teilnehmenden.

Für die Menschen, die sich bei Coenen melden, ist die Tiefe Hirnstimulation so etwas wie die letzte Chance. „Sie leiden so sehr, dass sie zum Teil nicht einmal mehr die Kraft haben, sich das Leben zu nehmen“, sagt Coenen. Auf psychiatrische Hilfe würden sie oft schon lange nicht mehr hoffen.

Die Depression ist eine der häufigsten neurologischen Krankheiten. In Deutschland leiden knapp neun Prozent der Männer und mehr als fünfzehn Prozent der Frauen unter depressiven Symptomatiken. Die Krankheit sei so gefährlich wie Krebs, sagen Fachleute: Depressionen sind schwer zu heilen. Laut Coenen werden rund 40 Prozent der Erkrankten durch die etablierte Behandlung wieder gesund. „Rund 60 Prozent erleben einen unruhigen Verlauf“, sagt Coenen. „Mal geht es besser, mal schlechter.“ Heißt: Wer eine Depression bekommt, bleibt wahrscheinlicher dauerhaft krank, als dass er wieder gesund wird.

Rund 30 Prozent der Behandelten helfe keine der etablierten Methoden, sagt Coenen. Leider sei nicht für alle, die zu diesen 30 Prozent gehören, die Tiefe Hirnstimulation die richtige Therapie. Coenen erzählt von Menschen mit sogenannten Komorbiditäten, also weiteren Krankheiten. Bei ihnen könne es sein, dass Symptome auf eine Depression hindeuten, aber eine andere Krankheit ausschlaggebend sei.

Die Tiefe Hirnstimulation war ein Zufallsfund

Die Idee, Depressionen mit Stromstimulierungen zu behandeln, verdankt Coenen dem Zufall. Als er 2008 an der Universität von British Columbia im kanadischen Vancouver arbeitete, behandelte sein Team einen Parkinson-Patienten mit Tiefer Hirnstimulation. Das ist seit den 1990er-Jahren etabliert, heute lassen sich allein in Deutschland jedes Jahr Hunderte Parkinson-Patienten ein Neuroimplantat einsetzen. Doch bei diesem Patienten sei der Strom an eine Stelle im Gehirn gelangt, die er eigentlich nicht erreichen sollte, erzählt Coenen: an das mediale Vorderhirnbündel. „Die Stimulierung hat bei ihm manische Symptome ausgelöst.“ Erhöhte Impulsivität, Gefühl von Grandiosität, übersteigertes Freudeempfinden, sehr viel Energie.

Später kam Coenen auf die Idee: Könnte man das Gehirn von Menschen mit Depression so stimulieren, dass ihre Stimmung auf ein durchschnittliches Level kommt? Nach 15 Jahren Forschung, die er zusammen mit dem Psychiater Thomas Schläpfer betrieben hat, sagt Coenen: „Es scheint zu funktionieren.“

Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen

Wie genau, weiß er bis heute nicht. Coenen vermutet, dass es etwas mit einem Bereich im unteren Hirnstamm zu tun hat, über den der Strom das Belohnungs- und Emotionssystem erreicht. Um die Vermutung zu bestätigen, müsse wohl noch Jahrzehnte geforscht werden, sagt Coenen.

Die Tiefe Hirnstimulation birgt allerdings auch Risiken. Die Elektrode muss in einen tiefen Bereich des Gehirns gebracht werden, dabei besteht die Gefahr einer Blutung. Bei etwas weniger als einem Prozent der Operierten komme es zu dauerhaften Schäden, sagt Coenen, also Einschränkungen, die das Leben der Patientinnen und Patienten länger als sechs Monate verändern. Außerdem bestehe ein Infektionsrisiko von bis zu fünf Prozent. „Manchmal ist es notwendig, die Komponenten wieder zu entfernen.“

Coenen weiß, dass es Vorbehalte gibt gegen Brain-Computer-Interfaces. Wenn Gehirn und Computer verschaltet werden, kommen Ängste hoch. Könnte ein Chip beispielsweise den Charakter eines Menschen verändern? Leichte Veränderungen, sagt Coenen, seien immer möglich. Wobei eine schwere Depression viele ohnehin charakterlich verändere. „Wir bringen eher den Menschen zurück, wie er vor der Krankheit war“, sagt Coenen. Er könne sehen, dass sich die Lebensqualität der Behandelten verbessert, dass sie wieder rausgehen, am sozialen Leben teilnehmen, zum Teil arbeiten können und wieder Freude empfinden.

Und die Angst, jemand könnte die Technologie missbrauchen, sich in fremde Köpfe hacken und so Skrupel und Moral ausschalten? Auch eine Mär, sagt Coenen. Unser Wille bestehe, einfach ausgedrückt, aus mehreren Netzwerken im Gehirn: Eines könne die Hirnstimulation vielleicht kurzfristig ausschalten, aber nicht alle auf einmal. Für eine Gehirnwäsche tauge so ein Hirnimplantat nicht, sagt Coenen. „Das gibt es nur in Filmen.“

Wenn es dir oder anderen nicht gut geht, kann die Telefonseelsorge helfen. Anonyme, kostenlose Beratungen kriegst du zu jeder Tages- und Nachtzeit unter den bundesweiten Telefonnummern (0800) 111 0 111 oder (0800) 111 0 222. Die Telefonseelsorge bietet auch Mail- und Chatberatungen an.

Titelbild:© Hellerhof/Tiefe Hirmstimulation/CC BY SA 3.0/Wikimedia 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.