„Die Russen haben heute einen weiteren Freund von mir getötet. Ich habe ein Bild von seiner Leiche gesehen, es war ein sehr langsamer und qualvoller Tod […]. Er war bereits tot, aber sein Mund schrie noch.“
Dieser Post stammt von Timur Dzhafarov, ukrainischer Soldat, veröffentlicht am 29. Oktober 2023. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine war Timur, damals 26 Jahre alt, als John Object ein aufstrebender DJ der Technoszene von Kyjiw. Am Tag nach dem russischen Überfall stellte er seine Tracks ins Internet und meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst.
Der „fluter“ hatte über Timurs erstes Jahr an der Front berichtet, in dem der Künstler zum Krieger wurde. Wie geht es ihm heute? Wir haben nachgefragt und nachgelesen. Kurz: Auch in seinem zweiten Kriegsjahr hat Timur in den sozialen Medien und auf seinem Blog „A light in every darkness“ über den Krieg geschrieben. So hoffnungsfroh, wie der Titel seines Blogs es andeutet, waren seine Posts aber nicht.
Aufgeben ist keine Option
An einem Tag schreibt Timur darüber, dass Russland „an diesem Morgen etwa eine Milliarde Dollar“ dafür ausgegeben habe, Ukrainer zu töten – er meint damit die ständigen russischen Angriffe mit Raketen und Drohnen. An einem anderen stellt er fest, von der Musikszene zurückgelassen worden zu sein, nichts mehr produzieren zu können, das musikalisch jemanden interessiere. Er schreibt auch über eine gescheiterte Beziehung. „Ich habe keinen Kontakt mehr zu der Person, die ich letztes Jahr heiraten wollte und die ich für meine große Liebe gehalten habe.“ Timurs Posts zeigen: Jeder Kriegstag bedeutet Verlust, auch für jene, die ihn überleben.
Aufgeben will Timur aber keinesfalls. „Selbst wenn das möglich wäre, wäre es für mich keine Option“, antwortet er uns schriftlich auf die Frage, ob er je darüber nachgedacht habe, seinen Militärdienst zu quittieren. Moralisch vertretbar sei es ihm erschienen, sich im vergangenen Herbst von der Front zu einer Stellung unweit von Kyjiw versetzen zu lassen, wo die unmittelbaren Kampfhandlungen weiter weg seien. Nun könne er, nach Feierabend, zusätzlich zu seinem Leben als Soldat auch „ansatzweise“ ein ziviles Leben führen.
In der Ukraine wird gerade eine offene Debatte darüber geführt, wer welches Leben führen darf und wer an der Waffe zu dienen habe. Viele Ukrainer, die sich nach der Kriegseskalation freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet haben, fragen sich, wie lange sie ihr Land in den Schützengräben verteidigen sollen, während andere Landsleute gar nicht kämpfen. Zumal die Soldaten nach der gescheiterten Gegenoffensive im vergangenen Jahr und wegen der angespannten Lage an der Front nur selten die Erholungstage bekommen, die ihnen eigentlich zustehen.
Von den westlichen Staaten ist Timur enttäuscht
Timur aber erklärt: „Wir werden weiterkämpfen und alle Gebiete befreien.“ Er meint damit auch den Donbas und die Krim – jene beiden Landesteile, die Russland teilweise bereits seit 2014 okkupiert. Auch von seinen Mitkämpfern höre Timur nichts anderes.
Enttäuscht zeigt sich Timur von der Einstellung vieler westlicher Länder, die der Ukraine zwar Waffen lieferten, dies aber zumeist spät und nach langen Debatten. Fortschrittlichste Technik bleibe dem angegriffenen Land oft verwehrt.
Wie geht es den Menschen im Donbas?
Éric Vazzoler gibt in der Ukraine Foto-Workshops. 2023 reiste er in das zerstörte Mariupol und ließ Jugendliche ihre Stadt porträtieren.
„Man sollte meinen, Deutschland könnte mehr als 18 Leopard-2-Panzer schicken? Und sollte man nicht meinen, dass ein Menschenleben den höchsten Wert hat, nicht zu vergleichen mit irgendeinem Stück Metall?“ Timurs Worte klingen bitter, wie auch viele seiner Posts, sie klingen auch umso härter, je länger der russische Überfall andauert. Und natürlich dient auch das Metall, aus dem Leopard-Panzer gefertigt werden, dem Tod von Menschen, auch wenn sie in diesem Fall, aus Timurs Sicht, feindliche Soldaten sind.
„Ich will nicht sarkastisch klingen, aber ich hielt Völkermord für etwas Unannehmbares und ging davon aus, dass er mit allen erforderlichen Mitteln gestoppt würde, unabhängig davon, wer wem Öl und Gas verkauft“, schreibt Timur und meint damit die Reaktion vieler Staaten, die lieber weiter mit Russland Geschäfte machen würden, statt die Aggression des Landes gegen die Ukraine zu verurteilen.
Auch wenn internationale Experten sich uneinig sind, ob das russische Vorgehen in der Ukraine als Völkermord zu bezeichnen ist, sind sie sich einig, dass es kaum gelungen ist, die russische Wirtschaft mit Sanktionen in die Knie zu zwingen. So produziert Russland sowohl zivil als auch militärisch weiter – und schickt immer mehr Waffen und Soldaten in die Ukraine. Laut einer Schätzung der US-Regierung wurden in den ersten 18 Monaten seit der Kriegseskalation am 24. Februar 2022 etwa 70.000 ukrainische Militärangehörige getötet und bis zu 120.000 verwundet.
Der Ukraine droht eine verlorene Generation
Im dritten Jahr des russischen Überfalls ist der Krieg von einem Schockmoment zu einer dauerhaften Realität geworden. Der Ukraine droht eine verlorene Generation. Sie besteht aus vielen jungen Menschen wie Timur, die den Glauben an den Sieg ihres Landes vielleicht noch aufbringen können, den Glauben an ihre eigene Zukunft aber nicht.
Manchmal stellt Timur noch musikalische Schnipsel ins Netz, die an seinen rauen, industriellen Sound aus der Zeit vor der Kriegseskalation erinnern, aber heute düsterer klingen. Als Rückkehr zur Musik betrachtet Timur diese Ausflüge in sein früheres Leben nicht. „Ein Instrument nur anzuspielen oder aber ein Musikstück zu konzipieren, zu schreiben, zu produzieren, das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge.“ Laut seinem Profil in den sozialen Netzwerken ist Timur weiter ein „Ukrainian soldier. Ex-musician“.
Timur weiß nicht, ob er irgendwann „Musiker. Früherer Soldat“ schreiben wird, schreiben kann. „Ich denke überhaupt nicht über die Zukunft nach. Die Russen könnten mich jeden Tag umbringen.“
Titelbild: Timur Dzhafarov @johnobject