„Aufgeben ist keine Option“

Wie kann man sich jetzt noch für den Dialog im Nahen Osten einsetzen? Die Friedensaktivistinnen von „Palestinians and Jews for Peace“ machen es vor

Interview: Mirjam Ratmann
11. März 2025
Die beiden Aktivistinnen stehen auf einem Wagen und sprechen auf der Palestinians and Jews for Peace Demo

fluter.de: Der Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel liegt inzwischen 16 Monate zurück. Welche Erinnerungen haben Sie an den 7. Oktober 2023?

Yael Schmitt*: Ich war mit meiner Familie in Israel zu Besuch. Am Abend davor saßen wir mit palästinensischen Freund:innen zusammen und haben uns gefreut, weil wir uns so lange nicht gesehen hatten. Am Siebten bin ich sehr früh aufgewacht, habe das Radio angemacht und plötzlich gehört, wie eine Frau von einem Überfall auf einen Kibbuz berichtete und die Reporterin anschrie, dass sie Hilfe bräuchten. Ich dachte: „Von welchem Krieg sind diese Aufnahmen?“ Erst später habe ich verstanden, dass das live war.

Zeynep Karaosman: Ich habe morgens auf Social Media Videos gesehen, die mich schockiert haben. Dann habe ich versucht, Freund:innen in Israel zu kontaktieren, wusste aber nicht, was ich schreiben sollte. „Wie geht es dir?“ erschien mir zu banal. Ich war wütend und schockiert über den Überfall auf Israel. Ich hatte aber auch Angst, dass es nun zu einer kollektiven Bestrafung der Palästinenser:innen kommen würde. Ich wollte diese Wut und Angst auf die Straße tragen, wusste aber nicht, wie. 

In den folgenden Tagen und Wochen gab es in Deutschland zahlreiche pro-israelische oder pro-palästinensische Demos. 

Karaosman: Ich konnte nicht auf eine dieser Demos gehen. Auf den einen wurden israelische Flaggen geschwenkt und rassistische Parolen gerufen. Die anderen feierten die Hamas.

„Wir wollen einen Raum schaffen, in dem Menschen zusammen unsicher sein, aber auch weinen können“

Deswegen haben Sie am 22. Oktober eine eigene Demonstration in Köln unter dem Motto „Palestinians and Jews for Peace“ organisiert. 

Karaosman: Kurz nach dem 7. Oktober habe ich einer jüdischen Freundin geschrieben. Wir haben uns beide schlecht gefühlt und wollten uns gegenseitig unterstützen. Uns hat es wütend gemacht, wie schnell Menschen, Medien und Politik sich für eine Seite entschieden hatten und andere Standpunkte ausblendeten. Mit der Demo wollten wir zeigen, dass wir auch zusammen trauern können. 

Schmitt: Als ich aus Israel zurückkam, war ich traumatisiert. Am 7. Oktober waren wir nur zufällig nicht im Süden gewesen, dort, wo die Hamas das Massaker verübt hat. Ich hatte Schuldgefühle. Auch weil ich dank meines deutschen Passes Israel verlassen konnte, während Teile meiner Familie und Freund:innen dortbleiben mussten. Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass Menschen hier verstehen, was ich denke und fühle. Die Demo war der erste Ort, an dem das anders war. Besonders positiv ist mir aufgefallen, dass niemand politische Flaggen oder Symbole getragen hat. Diese Vorgabe haben wir bisher bei jeder Demo rausgegeben. Stattdessen können Teilnehmer:innen Blumen und Kerzen mitbringen.

Sie haben seitdem mehrere Demos organisiert, aber auch Workshops und Panels. Wie reagieren Menschen auf Sie und Ihre Aktionen?

Schmitt: Ich habe bei jeder Veranstaltung das Gefühl, dass die Leute etwas mitnehmen. Ich hoffe, sie gehen mit Denkanstößen zurück in ihren Freundes- und Bekanntenkreis und teilen dort ihre Gedanken. Wir wollen etwa vermitteln, dass es nicht die Israelis und die Palästinenser:innen gibt. In der Region leben zum Beispiel israelische Palästinenser:innen, manche mit israelischer Staatsbürgerschaft, manche ohne, dann die, die in Gaza oder im Westjordanland leben – das sind keine homogenen Gruppen. Auch die israelische Gesellschaft ist sehr divers. Zudem leben in dem Gebiet Drusen und Beduinen, die ebenfalls von dem Konflikt betroffen sind. Unser Wunsch ist, dass sich alle gegenseitig wieder mehr zuhören und weniger auf ihren vorgefertigten, vorurteilsbehafteten politischen Standpunkten beharren. 

Karaosman: Auf unseren Veranstaltungen können die Teilnehmenden anonym ihre Fragen aufschreiben und in eine Box werfen. Anonymität ist wichtig, da viele Angst haben, offen Fragen zu stellen. Mit am meisten beschäftigt Teilnehmende, wie sie als nicht betroffene Personen gleichzeitig mit jüdischen und palästinensischen Freund:innen oder Bekannten solidarisch sein können. Manche sind verunsichert, wann man welche Begriffe verwendet oder wie sie mit rassistischen oder antisemitischen Parolen an ihrer Hochschule umgehen sollen. Wir wollen einen Raum schaffen, in dem Menschen zusammen unsicher sein, aber auch weinen können. Die Resonanz ist jedes Mal hoch. Negatives erfahren wir vor allem online.

„Deswegen sind Friedensgruppen so wichtig: Sie stellen statt politischer Agenda oder Ideologie die Menschen in den Vordergrund und suchen den Dialog“

Inwiefern?

Karaosman: Niemand von uns erhebt Anspruch darauf, die richtige Antwort zu haben. Wir sehen das Leid aller Seiten und bewerten nicht, wer mehr oder weniger leidet. Manchen sind wir damit nicht pro-israelisch, anderen nicht pro-palästinensisch genug. Einige glauben, dass wir es uns einfach machen würden, keine Stellung zu beziehen. Mir persönlich wurde vorgeworfen, keine echte Palästinenserin zu sein, weil ich die Hamas kritisiere. 

Ist es nicht ermüdend, gegen solch verhärtete Fronten anzukämpfen?

Karaosman: Ja, es kann anstrengend sein. Gleichzeitig ist unsere Arbeit für mich auch notwendig, um die Geschehnisse zu verarbeiten. Ich mache das aber nicht nur für mich, sondern auch für alle Betroffenen und Friedensgruppen in Israel und Palästina, die sich seit Jahrzehnten für Frieden einsetzen. Nichts zu tun, bedeutet für mich aufzugeben, und Aufgeben ist keine Option.

Wie nehmen Sie den zunehmenden Antisemitismus und die steigende Muslimfeindlichkeit seit dem 7. Oktober in Deutschland wahr?

Schmitt: Ich habe sehr viel geweint in den vergangenen anderthalb Jahren. Israel war für mich und für jüdische Menschen immer der heimliche „Plan B“. Diese Vorstellung wurde durch den 7. Oktober zerschlagen. Ich bin schon vorher nicht damit hausieren gegangen, dass ich einen israelischen Hintergrund habe. Meine Tochter hütet sich davor, in der Schule zu erzählen, dass wir Chanukka, das jüdische Lichterfest, feiern. Viele jüdische Menschen outen sich jetzt gerade nicht mehr.

Karaosman: Als Weiß gelesene Person habe ich das Glück, dass man mir meine arabische Identität nicht ansieht. Wenn jemand bei uns in der Gruppe Antisemitisches, Muslimfeindliches oder Rassistisches erlebt, versuchen wir, die Person zu unterstützen, so weit wir das können. Und bei unseren Veranstaltungen müssen wir immer an ein passendes Sicherheitskonzept denken, um alle Anwesenden zu schützen. Wir arbeiten mit einem queer-feministischen Kollektiv zusammen, das auf entsprechende Sicherheitsvorkehrungen spezialisiert ist.

Yael Schmitt und Zeynep Karaosman auf einem Planwagen halten eine Ansprache

Yael Schmitt* (47) ist Künstlerin. Ihre Mutter ist eine im Irak geborene Israelin, ihr Vater ist Deutscher. Teile ihrer Familie leben in Israel. Zeynep Karaosman (37) arbeitet als Inklusionsbegleiterin und engagiert sich seit über zehn Jahren als Friedensaktivistin. Ihre Mutter stammt aus Syrien, ihr Vater aus Palästina. Aufgewachsen ist sie in der Türkei. Beide leben in Köln.

Fotos: privat

Wie blicken Sie in die Zukunft der Region?

Schmitt: Ich bin eher pessimistisch. Mich erschüttert das Ausmaß der Zerstörung im Gazastreifen und das Vorgehen von Soldaten und Siedlern im Westjordanland. Meine Verzweiflung treibt mich aber an, weiterzumachen, vor allem für meine Tochter und meine Cousinen. Gar nichts zu sagen und damit allein zu bleiben, ist noch schlimmer. Mit Menschen darüber zu sprechen, hilft mir, aus der Ohnmacht herauszukommen.

Karaosman: Ich freue mich über jede Geisel, die freikommt, ebenso wie über gefangene Palästinenser:innen, die zu ihren Familien zurückdürfen. Damit das Leid in der Region endet, braucht es einen Kompromiss. Deswegen sind Friedensgruppen so wichtig: Sie stellen statt politischer Agenda oder Ideologie die Menschen in den Vordergrund und suchen den Dialog. Auch wenn man nicht immer einer Meinung ist. Bei uns in der Gruppe liegt der Fokus nicht auf Einigkeit, sondern auf Diskussion. Sprechen wir über ein schwieriges Thema, wie beispielsweise deutsche Waffenlieferungen nach Israel, versuchen wir, empathisch und respektvoll gegenüber allen Seiten zu sein. Es geht darum, das Gegenüber nicht zu verurteilen, sondern sich auf eine andere Perspektive einzulassen, die man sonst nicht sehen würde. Genau diese Haltung brauchen wir jetzt am meisten. 

* Um sich selbst und ihre Familie zu schützen, steht hier nicht Yael Schmitts echter Name. Der Redaktion ist der Name bekannt.

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