Erstens tut es weh, sich in stundenlanger Prozedur Farbpigmente in die Haut stechen zu lassen. Zweitens wird man sie nicht leicht wieder los, und auch das ist schmerzhaft. Also drittens: Warum tun Leute das, sich tätowieren lassen? Einen Drachen am Hals, eine Liebesbotschaft am Handgelenk, ein Ornament an der Wade. Für immer. Die Antwort von Günter Götz lässt sich so zusammenfassen: Sieht einfach besser aus als nackte Haut. Günter Götz, Jahrgang 1954, ist nicht irgendwer. Er betreibt im Hamburger Stadtteil St. Pauli die „Älteste Tätowierstube in Deutschland“, amtlich eingetragen. Besonders alt muss man dafür nicht sein, der kleine Laden am Hamburger Berg, einer Seitenstraße der Reeperbahn, existiert seit 1946. Während der Nazizeit sei Tätowieren als Geschäftszweig verboten gewesen.

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Tattoos sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Genau wie Yoga (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz)

Tattoos sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Genau wie Yoga

(Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz)

Menschen lassen sich seit Jahrtausenden tätowieren, und sie tun es überall auf der Welt. Es gibt nicht den einen Ort, an dem alles angefangen hat, um sich dann über die Welt zu verbreiten. Das Tätowieren, so scheint es, ist eine Form der Körpermodifikation, die zugleich so speziell und so naheliegend ist, dass sie in sehr vielen Kulturkreisen unabhängig voneinander entwickelt wurde. Der Kunsthistoriker Ole Wittmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter der (gerade laufenden) Ausstellung „Tattoo“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, nennt als Motive „Identitätskonstruktion soziologischer oder auch psychologischer Natur. Bei indigenen Völkern können auch Initiationsriten oder die Kennzeichnung des sozialen Status eine Rolle spielen.“

Bis ins 20. Jahrhundert ging es, vereinfacht gesagt, meist darum, durch diese dauerhafte Markierung des eigenen Körpers die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder auch den Stand innerhalb einer Gemeinschaft auszudrücken. Mitnichten nur in den unteren Schichten. Auch unter europäischen Adligen pflegte man den Ritus schon im 19. Jahrhundert, wie Wittmann weiß. Gemeinhin und traditionell aber verbanden viele Menschen mit Tattoos etwas Verrucht-Prolliges. Bei Seeleuten und Gefängnisinsassen funktionierten (und funktionieren) Tattoos als Codes, um Eingeweihten mitzuteilen, dass einer wegen Mordes einsitzt oder, bei den Seeleuten, bereits den Äquator überquert hat. Dass bekanntlich Seemänner eine besondere Leidenschaft fürs Tätowieren entwickelten, auch das erklärt Götz sehr nüchtern: mit Langeweile auf den Weltmeeren. Noch bis in die 1970er-Jahre waren Matrosen bei den Tätowierern von St. Pauli die größte Kundengruppe, sagt Götz. Dann wurden es weniger, heute kommen keine Matrosen mehr.

Heute kommen: alle anderen. Und bei all diesen anderen geht es nicht mehr um rituelle Zeichen, durch die jemand sich in eine Gruppe einordnet, es geht genau ums Gegenteil, den unbedingten Wunsch nach Individualität und Distinktion. Dabei gibt es, darauf deuten Untersuchungen hin, zuletzt eine Befragung im Auftrag der Ruhr-Universität Bochum im vergangenen Jahr, keine gesellschaftliche Gruppe und kein Geschlecht mehr mit besonders auffälliger Affinität für oder Aversion gegen das Tätowieren. Was die Bochumer Studie auch zeigt, ist eine wachsende Begeisterung für diese Art der Körpermodifikation: Mehr als jeder Fünfte der Befragten zwischen 25 und 34 Jahren war tätowiert, von den über 65-Jährigen hingegen nur ein Prozent.

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Tattoo tataa: Früher galt Tätowieren als typisch für Leute, die auch mal mit dem Gesetz in Konflikt kommen (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz)

Tattoo tataa: Früher galt Tätowieren als typisch für Leute, die auch mal mit dem Gesetz in Konflikt kommen

(Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz)

Wie bei jeder Sehnsucht nach besonders individueller Ausdrucksform steckt auch im Tätowieren der Widerspruch, dass, wenn viele dieselbe Idee haben, etwas Besonderes sein zu wollen, etwas Uniformes dabei herauskommt. Auch die Körpermodifikation ist eben eine Frage der Mode. Derzeit sieht Götz Schriften im Trend, Namenszüge ebenso wie Botschaften aller Art. Sich ein Tattoo stechen zu lassen ist nicht immer, aber oft mit der Idee verbunden, ein besonderes Ereignis oder Gefühl zu verewigen. Auch das ist eine hübsche Kontradiktion: Ausgerechnet jüngere Menschen, denen man gern nachsagt, dass sie sich nur sehr ungern auf etwas festlegen und lieber offen für alles bleiben möchten, treffen oft die Entscheidung für einen lebenslänglichen Körperschmuck.

Und wie steht es allgemein um Tattoos und Überdruss? In der Bochumer Studie gaben nur etwa zehn Prozent der Tätowierten an, den Eingriff zu bedauern. Allerdings: In einer Gesellschaft der Dauermodifikation und Daueroptimierung, in der Trends sich ständig ändern und was gestern hip war, heute schon peinlich sein kann, müsste man wohl gelegentlich noch mal nachfragen.

Katrin Weber-Klüver ist freie Autorin, lebt in Berlin und guckt gerne Fußball. Warum so auffallend viele Kicker sich für Tätowierungen begeistern, vorzugsweise als flächendeckender Unterarmschmuck, war ihr bisher ein Rätsel. Nun ahnt sie: Die haben einfach zu viel Zeit. Und bei manchen sieht's sogar ziemlich gut aus.