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Freiwilliges Inlandsjahr

Viele dänische Schülerinnen und Schüler verbringen ein Austauschjahr nicht in den USA oder Frankreich, sondern im eigenen Land. Statt einer neuen Sprache lernen sie dort vor allem: frei sein

Efterskole

Um Punkt 8.30 Uhr läutet Lynge Korsgaard die Glocke. Verschlafen schlurfen 110 Schüler*innen in Birkenstocks und Sneakern in die Aula und lassen sich in die Stuhlreihen fallen. Wenn der 37-jährige Schulleiter dann zur allmorgendlichen Ansprache ans Pult tritt und zum Gesangsbuch greift, hat das etwas von Jugendgottesdienst. Aber Korsgaard hält keine Predigt, sondern fordert die Schüler*innen auf, über ein Lied zu diskutieren: „Danmark“ von der Gruppe Shu-bi-dua wurde in den 70ern geschrieben, gilt heute wegen des selbstironischen Textes als inoffizielle Nationalhymne – und steht daher auch im Liederbuch der Schule Eriksminde. Aber weil in einer Strophe die „warmen Länder“ der Welt als „scheiße“ befunden werden – dort herrsche immer Krieg und die Menschen hausten in Höhlen –, hat es das Lied nicht in die neue Auflage geschafft. „Ist das gut oder schlecht?“, will er wissen.

Ein Fünftel der jungen Dän*innen verbringt ein Schuljahr auf einer Efterskole

Auch sonst wird viel diskutiert in Eriksminde, einer Schule auf dem platten, dänischen Land mit Umsonstladen, einer Fotostrecke im Schulflur über nonbinäre Geschlechtsidentitäten und mehr als 20 Fächern von Schneidern über Podcastmachen bis Schmieden. 241 solcher freien Schulen gibt es in ganz Dänemark, ein weltweit einmaliges Modell, das „Efterskole“ (Nachschule) genannt wird und schon seit fast 170 Jahren existiert.

Anders als der Name vermuten lässt, besuchen Schüler*innen die Efterskoler nicht nach dem Schulabschluss, sondern zwischen der achten und zehnten Klasse. Während manche Teenager in Deutschland in diesem Alter für einen Austausch in die USA oder nach Frankreich gehen, treffen in den oft ländlichen Schulen Schüler*innen aus ganz Dänemark aufeinander und wohnen für ein Jahr zusammen im Internat. Quasi ein Austausch im eigenen Land, ohne Eltern und Notenstress. Etwa ein Fünftel der jungen Dän*innen nimmt jedes Jahr daran teil.

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Efterskole

Von Mensch zu Mensch, nicht von oben herab: Vertrauen ist für Schulleiter Korsgaard das Grundprinzip der Efterskole

„Für uns zählt die Entwicklung, nicht das Ergebnis“, sagt Schulleiter Korsgaard in seinem Büro mit den sonnengelben Sesseln. Die Schüler*innen können sich aussuchen, ob sie ihre Noten erfahren wollen oder nicht. Aber viel von Noten hält Korsgaard nicht. Die Schüler*innen würden auch ohne Fremdeinschätzung wissen, wo sie stehen. Es sei ein Jahr zum Ausprobieren und Lernen, wie demokratisches Zusammenleben funktioniert.

Der heutige Schulleiter war vor 20 Jahren selbst auf einer Efterskole. Fernab vom Regelbetrieb hatte er dort Lehrer*innen, die ihm „von Mensch zu Mensch“ begegnet seien. Nicht kontrollierend und von oben herab. Das Grundprinzip sei Vertrauen. In Eriksminde gibt es keine Kameras, keine Nachtwache, die aufpasst, ob alle Schüler*innen im Bett liegen. Wer entgegen den Regeln raucht oder beim Alkoholtrinken erwischt wird, fliegt nicht von der Schule. Sondern muss sein Verhalten in großer Runde erklären, bis gemeinsam eine Lösung gefunden wird.

Eine Pause von Leistungsdruck und Gruppenzwang

In Eriksminde dreht sich zwar alles um Handwerk und Kreativität, ganz frei von staatlichem Zwang ist der Lehrplan aber nicht. Einige Fächer wie Mathe, Englisch und Dänisch sind morgens Pflicht. Eigentlich. Heute steht Arbeiten am Halbjahresprojekt an, das jede*r Schüler*in frei wählen darf. Im Keramikzimmer rattern Drehscheiben, in der Holz- und Metallwerkstatt zeichnen Schüler*innen ihre Entwürfe. „Ich möchte eine Miniaturstadt in ein Stück Holz schnitzen“, sagt Elias.

Nach dem Projektstudium steht gemeinsames Lernen auf dem Stundenplan. Selma, Mathilda und Sara sitzen im Philosophieunterricht in der hinteren Reihe. In Eriksminde besuchen sie die neunte und zehnte Klasse, den Unterricht haben die Klassenstufen zusammen. „Ich brauchte eine Pause vom Leistungsdruck“, sagt Sara, 16, aus Kopenhagen. „Auf der normalen Schule habe ich mich wegen der Noten sehr gestresst, vor allem während der Corona-Quarantäne.“ An die Stille auf dem Land habe sie sich erst gewöhnen müssen. Dafür sei Sara nun selbst entspannter geworden, habe weniger Ängste als zuvor.

Für Selma war es die Kleinstadt und das Zuhause, von denen sie Abstand brauchte: „Meine Klasse war nicht sehr gut. Ich habe einen Ort gebraucht, der kreativ ist und wo man sich umeinander kümmert“, sagt die 15-Jährige. Die Leute hätten getuschelt, wenn sie sich so angezogen habe, wie sie wollte. Hier in Eriksminde ist der Style der meisten irgendwo zwischen Secondhand und Öko verortet.

Eltern zahlen zwischen 5.000 und 9.000 Euro für das Austauschjahr

Der Schulleiter hätte es gerne, dass in seiner Schule ganz unterschiedliche Schüler*innen zusammenkommen. Doch noch sind sie sehr homogen, zumindest was den sozialen Hintergrund betrifft. Nur zehn bis zwanzig der 110 Schüler*innen würden aus finanziell schwach gestellten Familien stammen, für die der Staat einen Teil der Schulgebühren, die sich nach dem Einkommen der Eltern richten, übernimmt. Laut dem Dachverband der Efterskoler in Dänemark ist der Durchschnittspreis für ein Schuljahr seit 2008 um 23 Prozent gestiegen. Eltern zahlen aktuell zwischen 5.000 und 9.000 Euro jährlich. Schulleiter Korsgaard versucht nach eigenen Angaben, den Preis möglichst gering zu halten, und verzichtet auf teure Auslandsexkursionen nach Asien, Afrika oder Nordamerika, die manche Efterskoler gleich zweimal im Jahr anbieten würden. Dennoch können sich viele Familien das Internat wohl nicht leisten.

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Efterskole

Weniger Notendruck und weniger sozialer Druck: An der Efterskole scheinen die SchülerInnen besser aufeinander Acht zu geben

„Die Frage der Inklusion stellt sich für Efterskoler im Allgemeinen“, sagt Schulleiter Korsgaard. „Das Konzept ist so … dänisch.“ Viele Familien, die noch nicht lange in Dänemark leben, hätten Vorbehalte, wenn sie von den Standards hören – wie den genderneutralen Wasch- und Wohnanlagen, die es in Eriksminde gibt. „Wir könnten unser Konzept ändern, um es für diese Familien attraktiver zu machen“, sagt Korsgaard. Aber dann wäre „das gute Leben“, so wie es die Schule momentan vermitteln möchte, ein anderes. Vor einigen Jahren wurde ein Stipendienprogramm gestartet, das sich speziell an Familien mit Migrationshintergrund und Geflüchtete richtet, damit die Schulen der demografischen Realität entsprechen. Mittlerweile gibt es für das Stipendienprogramm eine lange Warteliste, so wie für die meisten Efterskoler.

Am Nachmittag knarzen erneut die Stühle in der Aula. Wieder werden die Schüler*innen nach ihrer Meinung gefragt. Dieses Mal geht es um die Entscheidung der Schule, keine Fotos mehr in die sozialen Netzwerke zu stellen, damit die Persönlichkeitsrechte aller gewahrt werden. Die Lehrkräfte geben bekannt, wer von ihnen am Wochenende Dienst schieben wird. Die Schüler*innen entscheiden selbst, ob sie nach Hause fahren oder im Internat bleiben. Das Programm fürs kommende Wochenende: Wandern und Bastelstunde mit Naturmaterialien.

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