Der Borkenkäfer hat auch vor Marcus Stechbarths Revier nicht haltgemacht. Zwar sieht es hier nicht aus wie in manchen Gegenden, wo ganze Bergkuppen kahl sind, weil die von Trockenheit und Schädlingen ausgezehrten Bäume einfach umgeweht wurden – aber die eine oder andere Lichtung gibt es auch hier im Kreis Herzogtum Lauenburg in Schleswig-Holstein. Es sind vor allem die alten Bäume, die den Schädlingen wenig entgegenzusetzen haben.
Forstwirtschaftsmeister Stechbarth zeigt auf eine rund 30 Meter hohe Fichte, vielleicht 100 Jahre alt, mit einem Ring aus roter Farbe um den Stamm. Der ist das Relikt einer Art Waldinventur, bei der alle sechs Jahre die Anzahl und Größe aller Bäume erfasst wird. Ein mühseliges Unterfangen, für das der Wald – ausgehend von einem Baum mit roter Markierung – in unzählige Flächen mit einem Durchmesser von jeweils acht Metern aufgeteilt wird. Die gesammelten Daten lassen dann auf den aktuellen Baumbestand schließen. Und der soll – obwohl regelmäßig für die Holzgewinnung gefällt wird – durch Aufforstung immer gleich bleiben.
Denn der Wald ist nicht nur schön zum Spazierengehen und Erholen, er ist für die Kommunen auch ein Wirtschaftsfaktor. In dem Gebiet, in dem Stechbarth pro Jahr sechs Auszubildende betreut, werden im Jahr 50.000 Kubikmeter Holz erwirtschaftet. Ein paar Millionen Euro bringt der Holzverkauf pro Jahr. Ein wichtiger Posten im kommunalen Etat. Der Holzverbrauch liegt in Deutschland bei mehr als 100 Millionen Kubikmetern jährlich – der Rohstoff wird nicht nur beim Bau oder für Möbel eingesetzt, sondern auch als Brennmaterial und zur Papierherstellung. Mit langsam wachsenden Mischwäldern ist dieser hohe Bedarf jedoch kaum zu decken, daher setzten Waldbauern und staatliche Forstämter jahrzehntelang auf schnell wachsende Nadelbäume wie Fichten. Doch gerade die leiden besonders unter dem Klimawandel und seinen Folgen wie der Borkenkäferplage. Um den Bedarf zu decken, importiert Deutschland Holz aus Ländern wie Kanada oder Russland. Doch Stechbarth gibt zu bedenken, dass bei importierten Bäumen häufig nicht mehr nachvollziehbar sei, ob sie aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammten oder nicht. „Es kann ja nicht sein, dass wir in anderen Ländern den Raubbau an der Natur fördern, um hier genügend Holz zu haben“, sagt er.
Der deutsche Wald ist wieder zum Kampfplatz geworden – wie zuletzt in den 1980er-Jahren
Fichte gegen Borkenkäfer, Umweltschützer gegen Holzproduzenten:
Der deutsche Wald ist wieder zum Kampfplatz geworden – wie zuletzt
in den 1980er-Jahren. Damals fielen Nadeln und Blätter ab, weil sogenannter saurer Regen die Bäume absterben ließ. Dieser entsteht bei der Verbrennungsprozessen, wenn sich Schwefel, Stickoxide und Kohlendioxid mit Wasser verbinden. Proteste von Umweltaktivisten führten schließlich dazu, dass in Fabriken Filter eingesetzt wurden, um den Schadstoffgehalt in der Luft zu reduzieren, und sich der Wald nach und nach erholte.
Noch vor wenigen Jahren schwärmte das Bundeslandwirtschaftsministerium vom gesunden deutschen Wald, doch dann traten die Folgen des Klimawandels immer mehr zutage. Mit den trockenen Sommern kam das Waldsterben zurück. Dem desolaten Wald setzten Stürme, Brände und Schädlinge zu. Pestizide von den angrenzenden Äckern zerstören zudem die Humusschichten des Waldes und das lebensnotwendige Netzwerk von Wurzeln und Pilzen. Laut „Waldzustandsbericht“ von 2020 sind 79 Prozent der Fichten lichter geworden, 80 Prozent der Eichen und sogar 89 Prozent der Buchen. Das ist der schlechteste Zustand seit Anfang der Erhebung im Jahr 1985. Und der „Dürremonitor“ des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung weist den Waldboden in vielen Gegenden bis in tiefere Schichten als extrem trocken aus.
Der Wald habe allerdings schon viele Katastrophen und Krisen erlebt, sagt Marcus Stechbarth, der seinen Job seit fast 30 Jahren macht und eher zur nordischen Gelassenheit als zur Aufregung neigt. „Natürlich ist der Klimawandel ein Problem, aber die Natur hat bisher immer wieder Lösungen gefunden.“ Was aber, wenn der Mensch die Natur nicht machen lässt?
Einen anderen Umgang mit den für uns lebenswichtigen Waldflächen kann man nicht weit von Stechbarths Revier begutachten. Der Stadtwald Lübeck ist dafür bekannt, dass die natürlichen Prozesse hier seit 26 Jahren nicht gestört werden und der Mensch fast nicht in die Natur eingreift. Das heißt, die Bäume säen sich selbst aus, und Totholz bleibt liegen, um als Biotop für wichtige Organismen zu dienen. Obwohl so ein Wald erst auf lange Sicht Geld einbringt, haben einige Städte – darunter Berlin, München, Hannover und Göttingen – das Konzept der „naturnahen Waldnutzung“ in einigen Gebieten übernommen.
Neue Arten bergen die Gefahr, dass mit ihnen Schädlinge in die heimische Fauna gelangen
Doch nicht jeder Wald ist im öffentlichen Besitz, fast die Hälfte gehört privaten Waldbesitzern, die ihre Flächen zum Teil seit Generationen bewirtschaften. Viele der Waldbäuerinnen und Waldbauern können sich den ökologischen Weg nicht leisten. Sie müssen ihre Familien ernähren und sind daher auf schnelles Holzwachstum angewiesen. Weil der lukrativste Baum, die Fichte, derzeit am stärksten leidet, experimentieren manche bereits mit anderen, nichtheimischen Arten, die dem Klimawandel besser trotzen. Deutschland sucht quasi den Superbaum. Die Amerikanische Edelkastanie käme vielleicht infrage, der spanische Maulbeerbaum oder auch der chinesische Blauglockenbaum, dessen Holz als das Aluminium der Holzindustrie gilt, weil es leicht und stabil zugleich ist.
Fest steht: Überall in Deutschland wird derzeit darüber nachgedacht, auf welche Weise der deutsche Wald dem Klimawandel trotzen kann. Beim bayerischen „Kranzberg Forest Roof Experiment“ (KROOF) untersuchen Forstwissenschaftler und Biologen seit 2013 beispielsweise die Auswirkungen von Trockenstress auf Fichten und Buchen. Andernorts werden Roteichen und Douglasien, die mit trockenen Standorten besser zurechtkommen, in den Bestand eingestreut. Doch neue Arten bergen die Gefahr, dass mit ihnen Schädlinge in die heimische Fauna gelangen, die den hiesigen Pflanzen zusetzen können.
Auch der Forstbeamte Stechbarth denkt immer wieder über ungewöhnliche Arten nach, die seinem Wald zugutekommen könnten – und auch über Möglichkeiten, das Abholzen zu verringern und dennoch Geld zu erwirtschaften. Bereits vor Jahren haben die Forstämter eine ganz andere Nutzung des Waldes ersonnen – und das Geschäft damit läuft gut. Der sogenannte Ruheforst bietet eine Alternative zum herkömmlichen Friedhof: Die Asche von Verstorbenen wird in biologisch abbaubaren Urnen unterhalb eines Baumes in die Erde eingelassen, an den Stamm kommt auf Wunsch eine Namensplakette. Blumen niederlegen oder ein Beet anlegen darf man nicht, in den Wald sollen schließlich keine fremden Pflanzen gelangen. Dennoch nimmt die Zahl der Begräbnisse im Wald zu, auch weil die Zeremonien hier nicht so sehr reglementiert sind wie auf dem Friedhof. Stechbarth jedenfalls hat schon Gruppen von Motorradfahrern durch den Wald cruisen sehen, das letzte Geleit im Grünen. Eigentlich ein schöner Gedanke: Wenn der Mensch tot ist, trägt er zum Überleben des Waldes bei.
Titelbild: Diana Pfammatter