Thema – Flucht

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Unter Einsatz seines Lebens

Viele Flüchtende setzen ihr Leben aufs Spiel. Wie Dawod Adil, der vor den Taliban floh und in einem überfüllten Schlauchboot über das Meer fuhr, obwohl er nicht mal schwimmen kann

Flucht

Es sind 4.777 Kilometer Luftlinie von Berlin-Moabit nach Kabul. 4.777 Kilometer, die Adil zurückgelegt hat – mal zu Fuß, mal im Laderaum eines Transporters oder in einem wackligen Schlauchboot. Im Herbst 2015 ging seine Reise los, als er merkte, dass er in seiner Heimat nicht weiterleben kann. Adil hat Regie studiert und drehte in der afghanischen Hauptstadt gerade eine Dokumentation mit Angehörigen eines Anschlags der Taliban, bei dem 22 Menschen getötet und verstümmelt worden waren. Seine Anteilnahme am Schicksal der Menschen brachte ihn schließlich selbst ins Visier der Terroristen, die ihn bedrohten.

Adil’s Flucht führt ihn durch die Berge Pakistans, nach Teheran und Istanbul

Also packte der damals 26-Jährige seinen Rucksack, darin neben ein paar Klamotten Datteln, Mandeln und etwas Wasser. Sein Schwager in Kabul fand einen Schleuser, der Adil an die Grenze zu Pakistan brachte. „Wir sollten uns verkleiden“, erinnert er sich, „traditionelle Gewänder und Kopftuch anlegen.“ Sechs weitere Flüchtende waren in der Gruppe, mit Farid freundete er sich an. Zunächst fuhren sie durch die Wüste Richtung Pakistan, bedroht von Taliban, dem IS und der pakistanischen Polizei. Unterwegs wurden die Autos gewechselt, zum Schlafen versteckten sie sich in den Bergen.

In einem kleinen Transporter geht es über die Autobahn nach Teheran. Adil bekommt keine Luft, der Schleuser droht, ihn zu erschießen

Dann ging es über eine weitere Grenze: etwa 18 Stunden zu Fuß durch die Berge. Am Nachmittag liefen sie los, erst am Morgen kamen sie im Iran an – das Land, das neben Pakistan die meisten afghanischen Flüchtlinge aufnimmt. Am Tag versteckten sie sich und schliefen, nachts fuhren sie mit 16 Personen in einem kleinen Transporter über die Autobahn nach Teheran. Dabei lagen sie so eng beieinander, dass Adil kaum Luft bekam. Ich habe geklopft, sagt er, doch einer der Schleuser drohte, ihn zu erschießen.

Nachts kamen sie an die Grenze zur Türkei: Wieder ging es zu Fuß durchs Gebirge – in einer Schlange mit Frauen und Kindern. Es war November, kalt, Kinder weinten. Als sie in einem Lager eine Decke anhoben, fanden sie eine Leiche darunter. Das Bild verfolgte Adil lange in seinen Träumen. Er wusste, dass auf der Route viele Afghanen getötet wurden, und tatsächlich fielen plötzlich Schüsse. Die iranische Grenzpolizei verletzte zwei seiner Bekannten. Um sich zu beruhigen, las Adil Verse im Koran. „Damals war ich gläubiger“, sagt er.

In Istanbul fühlten sie sich zum ersten Mal seit Tagen in Sicherheit. Sie konnten sogar einfach einkaufen gehen – ohne die Angst, aufgegriffen oder erschossen zu werden. Dann ging es weiter – Richtung Griechenland. Die Schleuser ließen sie am Strand vor einem Schlauchboot zurück, das sie selbst aufpumpen mussten. 16 Menschen sollten damit über das Meer, für sieben war es ausgelegt.

Beim ersten Versuch drehen sie um – eine Familie will aussteigen

Wieder musste Adil entscheiden, ob er sein Leben aufs Spiel setzen wollte. Obwohl er nicht schwimmen kann, stieg er in das Boot. Als schon nach kurzer Zeit Wasser hineinlief, fuhren sie zurück zum Strand. Eine Familie stieg aus und weigerte sich mitzufahren. Auch Adils Freund Farid blieb zurück. Dann starteten sie einen zweiten Versuch und erreichten nach stundenlanger Fahrt eine griechische Insel in der Ägäis. „Ab da war es einfach“, sagt Adil. Tatsächlich hielt ihm niemand mehr eine Waffe ins Gesicht, es gab kein Meer mehr zu überqueren und keine Luftnot in überfüllten Laderäumen. Zu Fuß, im Bus und mit dem Zug erreichte Adil nach einem Monat auf der Flucht Deutschland.

Die Wüste, die Berge, das Meer, die Taliban, die bewaffneten Grenzer – Adil hat viel riskiert. Aber hat es sich gelohnt? War es das alles wert?

In Deutschland gibt es kein Meer, dass Adil überqueren muss – dafür eine Flut von Bestimmungen

Adil sitzt auf einer Schlafcouch in einem etwa acht Quadratmeter großen WG-Zimmer in Berlin und muss nicht lange überlegen. Ja, es hat sich gelohnt. Er lebt, er ist sicher. Vorerst zumindest, denn sein Asylantrag ist abgelehnt worden und er nur geduldet. Das bedeutet, dass er Deutschland verlassen muss – nur nicht sofort, da seine Abschiebung vorübergehend ausgesetzt ist.

Vielen Afghaninnen und Afghanen droht die Abschiebung, obwohl die Taliban in ihrem Land gerade wieder zunehmend Terror verbreiten. Wenn Adil die Angst überkommt, abgeschoben zu werden, sagt er sich: Er hat ja schon ganz anderes geschafft.

Und damit meint er nicht nur die Flucht, denn die Jahre danach in Deutschland waren auch nicht einfach. Keine Berge, aber Ämter. Kein Meer, aber eine Flut von Bestimmungen. Jahrelang teilte er sich mit zwei weiteren Geflüchteten ein Zimmer in einem Flüchtlingsheim in Herzberg in Brandenburg. Als er einen festen Job als Videojournalist in Berlin fand, konnte er nicht dort hinziehen – wegen der Residenzpflicht in Brandenburg. Die bedeutet, dass Geflüchtete, deren Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, nur in einem vom Amt bestimmten Bereich wohnen dürfen. Jeden Morgen musste Adil deshalb anderthalb Stunden mit dem Zug nach Berlin pendeln und abends zurück. Wenn er den letzten Zug zurück um 21.35 Uhr verpasste, schlief er am Bahnhof.

Eine Anwältin schaffte es schließlich, dass sein Fall nach Berlin verlegt wurde und er dort hinziehen konnte. Eine Arbeitskollegin vermittelte ihm das WG-Zimmer, in dem er nun seit gut einem Jahr lebt. Adil findet, dass er es weit gebracht hat. Er arbeitet, er wartet auf gute Nachrichten vom Amt, er hört in seinem Zimmer persische Musik und trinkt schwarzen Tee mit Kardamom. Wenn er aktuelle Nachrichten aus Afghanistan hört, wacht er nachts oft auf – weil ihm die Bilder von seiner Flucht durch den Kopf gehen. Aus der Zeit, in der er beschloss, alles zu riskieren. 4.777 Kilometer von hier entfernt.

Titelbild: Daniel Etter

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.