Die Sonne brennt in den Nacken, es riecht nach Abgasen und Staub, der Rachen wird immer trockener. Noha, Mohammed und Malou sind außer Atem, als sie bei 40 Grad ihre Fahrräder abstellen und die anderen auf dem Parkplatz treffen. Die restlichen Mitglieder der Organisation Cycling Geckos sind mit dem Auto gekommen. Schließlich hätten die drei die über 50 Essenspakete unmöglich alleine transportieren können.
In Kairo ist gerade Ramadan, Fastenmonat. Viele muslimische Menschen verzichten von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang darauf, zu essen und zu trinken. Wie der Ramadan gehört auch das Abgeben von Almosen an Bedürftige zu den fünf Säulen des Islams. Die Cycling Geckos liefern in dieser Zeit noch öfter als normalerweise, nämlich zwei- bis dreimal die Woche statt zwei- bis dreimal im Monat, Essensspenden aus: Lebensmittel und fertige Speisen, die eine Gruppe sudanesischer, eritreischer und syrischer Flüchtlinge im Auftrag der Cycling Geckos kocht. Bezahlt werden sie, genauso wie die Lebensmittel, mit Spendengeldern.
Zwischen Reichtum und Armut liegen in Kairo oft nur ein paar Meter
Heute, zur letzten Ramadan-Fahrt des Jahres, ist es ein wenig anders. Die meisten Spenden stammen von der Fast-Food-Kette Dega’s. Die Pakete sind vollgepackt mit Burgern, Pommes, Hühnchen, Säften und Donuts. Als die Cycling Geckos die Tüten zum Eingang des Slums Ramlet Bulaq tragen, stehen dort neben einigen Familien auch die Securitymänner des angrenzenden Luxushotels Fairmont Nile City Hotel. Seit Jahren versuchen die Hotelbesitzer das Land, auf dem der Slum liegt, aufzukaufen – bisher vergebens. Denn viele der Familien leben hier schon seit mehreren Generationen und möchten ihr Land nicht hergeben. Zwischen ihnen und dem Hotel kam es bereits vermehrt zu Auseinandersetzungen. Die Securitymänner sollen ein Auge auf die Bewohner haben und verbieten den Cycling Geckos, Fotos zu machen. Wenn man im Ramlet Bulaq steht und zu den goldfarbenen Türmen des Hotels hochsieht, zeigt sich klar der Spalt zwischen extremem Reichtum und totaler Armut in der Stadt. Während die Hotelgäste sich im Swimmingpool auf der Dachterrasse abkühlen, fehlt es ihren Nachbarn an fließend Wasser.
Die Idee zu Cycling Geckos hatte die 31-jährige Nouran. 2016 startete sie die ersten Touren in Kairo. Zum einem, um hilfsbedürftige Familien zu unterstützen, zum anderen, um Frauen zu fördern. Auf ihren Reisen in Europa entdeckte sie das Fahrradfahren – in Ägypten ist es für eine Frau absolut unüblich, Fahrrad zu fahren. Lange galt es sogar als Tabu. Das wollte Nouran ändern. Sie fand einen Sponsor, der ihr kostenlos Fahrräder auslieh, an die Treffpunkte brachte und sogar für Reparaturen sorgte.
Anfangs war es Nouran wichtig, dass die Cycling Geckos eine reine Frauengruppe sind, um ein klares Zeichen zu setzen. Heute, nach vielen Nachfragen, sind auch einige Männer in der Gruppe. Mit Tüten in beiden Händen und Masken über Mund und Nase gehen die Cycling Geckos durch die schmalen Gassen von Ramlet Bulaq, in denen sich eine Ruine an die nächste reiht. Hinter Holzplatten verstecken sich abgerissene Backsteinwände, und auf leeren Flächen erinnern nur noch ein paar Ziegelsteine daran, dass dort einmal jemand gewohnt hat. Hühner, Hunde und Ziegen laufen zwischen weggeworfenen Einwegtellern, Schokoriegelverpackungen, Chipstüten, Eisenstangen und Nägeln umher. Immer wieder trifft die Gruppe in den Trümmern auf Menschen, denen sie Pakete schenkt. Eine ältere Dame im Rollstuhl, die eine Portion entgegennimmt, sagt: „Ihr seid willkommen!“ und bedankt sich herzlich. An der nächsten Ecke wartet schon die nächste Familie.
Als die Gruppe den Slum verlassen will, entsteht um sie herum eine Traube und eine heftige Diskussion. Einige Familien hätten Pakete in ihren Häusern gebunkert und wären dann zurückgekommen, um noch mehr zu bekommen. Andere Slumbewohner hätten noch gar nichts erhalten. Zum Glück finden die Cycling Geckos im Auto noch ein paar Pakete, die sie Familien, die leer ausgegangen waren, überreichen.
Wegen der Pandemie sind 2020 alle Touren ausgefallen. Dieses Jahr konnten sie bisher nur selten stattfinden. Statt der 30 Fahrten während des Ramadans waren es diesmal circa zehn, und die 14-tägigen Fahrten im restlichen Jahr mussten komplett ausfallen. Der Fahrradsponsor ist ebenfalls abgesprungen. Er hielt es für keine gute Idee, während der Pandemie in die Slums zu fahren. Seitdem können nur noch die mit dem Fahrrad fahren, die selbst eines besitzen – oder es wie die Französin Malou machen.
Einen nahen Fahrradverleih finden? Nichts schwerer als das
Zwei Stunden vor der Auslieferungstour steht Malou in einer Straße voller Autowerkstätten und Ersatzteillagern. Sie ist zu früh und wartet unter einer Markise auf das Cycling-Geckos-Mitglied Fatima, die ihr den Weg zum Fahrradverleih zeigt. Es geht auf die unterste Ebene einer Tiefgarage. Neben Autos lehnen zwei Reihen Fahrräder an der Wand. Malou sucht sich eines aus, bezahlt die Leihgebühr und gibt ihren Ausweis als Pfand ab. Nun geht es 6,4 Kilometer auf die andere Seite des Nils, zum Rest der Gruppe. Einen näher gelegenen Fahrradverleih haben die Cycling Geckos noch nicht gefunden.
Beim Treffpunkt an der „Urban Station“ gibt es eine schnelle Begrüßung, und schon geht es für Malou, Noha und Mohammed auf dem Fahrrad und für einen großen Teil der Gruppe im Auto weiter zum Slum. Mohammed fährt auf dem Rad voraus, die anderen beiden hinterher. Ohne Fahrradhelm radeln sie im mehrspurigen Straßenverkehr Kairos, wo Fahrbahnstreifen bloße Dekoration sind und die ganze Straße eine Überholspur ist. Aus den vorbeifahrenden Autos schauen Männer amüsiert auf die Radlerinnen, und am Straßenrand zeigt eine Gruppe Jungs mit den Fingern auf sie. Was sie sagen, ist nicht zu verstehen, dafür ist der Verkehr zu laut. Doch ihr Gesichtsausdruck wirkt weniger empört als amüsiert. „Fahrradfahrende Frauen sind zwar immer noch ungewohnt, aber nicht mehr schockierend. Ich glaube, Nouran hat in den letzten Jahren wirklich für eine Veränderung gesorgt“, sagt die Französin Noémie, die in Kairo Arabisch studiert und seit diesem Jahr aktives Mitglied bei den Cycling Geckos ist. Dieses Jahr ist sie sieben Touren mitgefahren.
Die Sonne geht gerade unter, als die Cycling Geckos den Slum verlassen. Malou fährt zurück zum Verleih, um das Rad abzugeben und ihren Ausweis wiederzubekommen. Die anderen kämpfen sich durch das Gewusel auf den Straßen nach Hause. Jetzt endlich: das Fastenbrechen. Die Fahrten zehren an den Kräften, und ihre Organisation ist umständlich – ein Grund dafür, warum immer weniger bei der Spendenverteilung mit dem Fahrrad unterwegs sind.
Doch aufgeben will Nouran auf keinen Fall. Dieser kleine Erfolg, dass fahrradfahrende Frauen in Kairo immer normaler werden, beflügelt sie. Als Nächstes plant Nouran zwei längere Fahrradtouren ins Umland, in Gebiete, die meist konservativer sind. Da wird sie wahrscheinlich erst mal schief angeschaut und angequatscht werden. Aber das ist ja nicht verkehrt.