„Ahmet Amca, können wir noch eine Runde haben?“, ruft Ali Sözen, ein braunhaariger junger Mann mit Dreitagebart, auf Türkisch durch die Bar. Amca heißt auf Türkisch Onkel. Ein freundlich dreinschauender Mann nickt verständnisvoll und brummt: „Natürlich, mein Lieber.“ Die beiden kennen sich schon länger. Onkel Ahmets „Narr-Bar“ ist Alis Stammkneipe in Berlin. Sie ist mit dunklen Holzmöbeln eingerichtet und liegt im Souterrain in einer ruhigen Seitenstraße in Kreuzberg. In den Wintermonaten gibt es türkische Livemusik und Lesungen, im Sommer stehen die Tische draußen. Ali sitzt dort mit einer Gruppe junger türkischer Menschen um die 20 zusammen, trinkt und unterhält sich. Sie gehören alle zu der über 3.000 Mitglieder starken „New-Wave“-Gruppe auf Facebook, in der sich junge Türk:innen über das Leben in Deutschland austauschen.
Die Mitglieder der New-Wave-Gruppe sind Teil des Eliten-Wegzuges, der mit dem Putschversuch 2016 in der Türkei einsetzte. Damals stiegen die Asylanträge türkischer Menschen in Deutschland an. Expert:innen zufolge sind es gut ausgebildete Menschen, die die Türkei verlassen haben: Wissenschaftler:innen, Beamte, Richter:innen und Ärzt:innen, also viele Topverdienende. Deutsche Medien berichteten von einem „Braindrain“ und dem „Exodus der türkischen Elite“. Auch in der Migrationsstatistik lässt sich eine Kehrtwende beobachten: Seit 2016 ziehen wieder mehr Menschen von der Türkei nach Deutschland als umgekehrt. Der Trend dauert bis heute an und die Türkei leidet unter Fachkräftemangel.
Vielen jungen Menschen fällt es aber schwer, die Türkei zu verlassen. 2013 kämpfte ein Großteil von ihnen bei den sogenannten Gezi-Protesten für eine liberalere, demokratischere Türkei. Yağmur Çay, politische Aktivistin und Journalistin, trägt Schnürstiefel und hat ihre rotbraunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Bei dem Gedanken an die Proteste gerät sie ins Schwelgen: „Jedes Mal wenn ich an Gezi denke, muss ich heulen. Es ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist!“ Der Protest gegen die geplante Abholzung der Bäume im Gezi-Park in der Istanbuler Innenstadt, eine der letzten Grünflächen der Megacity, habe eine ganze Generation junger Türk:innen politisiert. Denn irgendwann ging es nicht mehr nur um den Erhalt des Parks, sondern auch um die Absetzung der türkischen Regierung. Bei ihrem letzten Türkei-Besuch war Yağmur Çay wieder vor Ort: „Wenn ich heute nach Istanbul reise, ist der Gezi-Park einer der ersten Orte, den ich besuche. Wir haben es geschafft, diesen Park trotz der konservativen Regierung zu behalten. Das hat sich fast angefühlt wie eine Revolution.“
Die Hoffnungen der Demonstrant:innen auf politische Mitbestimmung wurden dennoch enttäuscht, als die Polizei die Proteste brutal niederschlug. Drei Jahre später, im Juli 2016, folgte ein Putschversuch durch Teile des Militärs, dessen Hintergründe bis heute nicht final aufgeklärt sind. Als Reaktion verhängte die türkische Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan einen Ausnahmezustand, um den Staatsapparat von angeblichen Putschhelfer:innen und tatsächlichen sowie mutmaßlichen Anhänger:innen des Predigers Fethullah Gülen, der von Erdoğan als Initiator des Putsches bezichtigt wird, zu „säubern“.
Den Ausnahmezustand nutzte Erdoğan jedoch bald auch, um gegen regierungskritische Stimmen vorzugehen, die gar nichts mit dem Putsch zu tun hatten: Erst wurden Staatsdiener:innen, Jurist:innen und Lehrer:innen aus dem Dienst entlassen und regierungskritische Zeitungen und Fernsehsender geschlossen, später folgte eine Verhaftungswelle gegen Regierungskritiker:innen. Zeitgleich erschütterte eine Reihe von Terroranschlägen das Land, etwa der in der Silvesternacht 2017 im Istanbuler Club Reina. Der sogenannte Islamische Staat bekannte sich zu dem Attentat, zuvor hatten konservative Zeitungen Stimmung gegen das „westliche“ Feiern des Tages gemacht.
„Viele dachten sich: Mehr als die Gezi-Proteste hätten wir nicht machen können. Jetzt können wir nur noch uns selbst retten.“
Weil sie sich in Istanbul nicht mehr sicher fühlte, zog Yağmur Çay 2017 nach Berlin: „Warum kann ich nicht einfach einen Abend in einer Bar verbringen, ohne Angst zu haben, dass es einen Anschlag gibt?“, fragt sie in die Runde. Die anderen nicken zustimmend. Nach ihrem Umzug nach Berlin hatte sie zunächst Gewissensbisse, weil sie die Proteste nicht mehr vor Ort unterstützen konnte: „Viele dachten sich: Mehr als die Gezi-Proteste hätten wir nicht machen können. Jetzt können wir nur noch uns selbst retten.“ In Deutschland arbeitete sie für „Özgürüz“ (dt.: „Wir sind frei“), das türkisch- und deutschsprachige Onlinemagazin des Exiljournalisten Can Dündar. Der ehemalige Chefredakteur der wichtigen türkischen Tageszeitung „Cumhuriyet“ kam 2016 nach Deutschland und schreibt kritisch über Erdoğan und die AKP. Ende letzten Jahres wurde er in seiner Abwesenheit wegen angeblicher Spionage- und Terroraktivitäten zu insgesamt mehr als 27 Jahren Haftstrafe verurteilt.
Onkel Ahmet bringt eine Runde Bier, grinst und setzt sich zu der Gruppe an den Tisch. Er gehört auch zur türkischen Exilcommunity: Er kam nach dem Militärputsch von 1980. Die Narr-Bar ist eine Art Anlaufstelle für das türkische Exil. Anıl Yıldırım ist ein alter Schulfreund von Ali Sözen. Sie kennen sich von ihrer gemeinsamen Zeit am Istanbuler Erkek Lisesi, einem türkisch-deutschen Elitegymnasium. Aus ihrer Clique von damals lebt nur noch ein Freund in der Türkei, der Rest mittlerweile in Deutschland. Anıl und seine Frau Berna Özlem arbeiten in den Medien: er als Webdesigner, sie bei Amazon. In den Gesprächen am Tisch in der Narr-Bar geht es immer wieder darum, wie konservativ die türkische Gesellschaft geworden ist. „Das eigentliche Problem sind die Menschen“, sagt Berna Özlem. „In der Türkei wird es generell nicht gerne gesehen, wenn man seine eigene Meinung zu Dingen hat. Deswegen wird sich selbst bei einem politischen Wechsel nicht viel verbessern.“ Auch für Yağmur Çay sitzen die Probleme der Türkei tiefer: „In den letzten hundert Jahren wurden in der Türkei immer wieder Minderheiten wie Kurd:innen unterdrückt und getötet. Ich will nicht, dass meine zukünftigen Kinder so aufwachsen.“
Ali Sözen hat Verwaltungswissenschaften in Ankara studiert. Er ist der festen Überzeugung, dass in der Türkei ein System der Vetternwirtschaft entstanden ist: Wer Leute in der AKP kenne, habe es einfacher. Nachdem ihm und seiner Verlobten in Istanbul das Auto gestohlen wurde, sagte ihnen ein Polizeibeamter: „Wenn Sie keine Kontakte in die Politik haben, werden Sie Ihr Auto vermutlich nicht wiedersehen.“ Mittlerweile leben die beiden mit ihrem gemeinsamen Kind in der Nähe von Köln. Der Rest der Gruppe kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt als Berlin zu wohnen. Für progressive Türk:innen, die ihr Land verlassen wollen, sei Berlin die erste Anlaufstelle: „Ich treffe hier andauernd zufällig Menschen von meiner türkischen Universität, mit denen ich seit fünf Jahren nicht gesprochen habe“, sagt Berna.
Auch in Deutschand treffen die Exil-Türk:innen auf die politischen und kulturellen Konflikte ihrer Heimat
Dass die Stadt durch sogenannte Gastarbeiter:innen und deren Nachkommen bereits türkisch geprägt ist, hält sie für einen Vorteil. „Egal was du für ein Problem hast: Wenn du hier Türkisch sprichst, findest du immer jemanden, der dir hilft.“ Das sehen nicht alle der Anwesenden so.
Die Deutschtürk:innen in Berlin sind keineswegs eine geschlossene Gemeinschaft, in der jede:r gleich denkt, sondern von vielen unterschiedlichen Ansichten und Erfahrungen geprägt. Diese äußern sich auch in politischer Spaltung. So stimmte eine deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland bei der letzten Präsidenten- und Parlamentswahl 2018 für Erdoğan und seine AKP. Auch bei der umstrittenen Verfassungsreform 2017 – die dem Präsidenten wesentlich mehr Macht zugestand und Beobachter:innen zufolge die Gewaltenteilung in der Türkei aufgeweicht hat – hatten über 60 Prozent der Türk:innen in Deutschland, die an dem Referendum teilgenommen haben, mit Ja gestimmt. Viele haben ihr Stimmrecht jedoch auch nicht wahrgenommen, und knapp unter 40 Prozent haben mit Nein gestimmt. Die politischen Präferenzen derjenigen, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben, sind schlecht erforscht.
Mit manchen konservativen Deutschtürk:innen haben die in den liberalen Großstädten der Türkei aufgewachsenen New-Wave-Türk:innen schlechte Erfahrungen gemacht. Als Yağmur Çay einmal am Späti mit ihren Freund:innen Bier trank, sagte der Besitzer zu ihr auf Türkisch: „Hätte ich eine Tochter wie dich, würde ich mich schämen!“
Doch auch Deutsche ohne Bezüge zur Türkei machen es ihnen oft schwer. Ali Sözen erzählt vom Rassismus, den er in Deutschland immer wieder erlebt. Etwa wenn er vom Türsteher nicht in den Club gelassen werde, weil er „zu südländisch aussieht“. Oder wenn ihm nicht geglaubt werde, dass er kein Kind von ehemaligen Gastarbeiter:innen sei: „Wenn du türkisch aussiehst, denken alle, dass du hier geboren bist und schlecht Deutsch sprichst.“ Immer wieder muss er erklären, was ihn von der deutsch-türkischen Community unterscheidet: „Migration ist nicht bloß ein ‚Hintergrund‘ für mich. Ich habe mich selbst dazu entschieden auszuwandern.“
Der Abend in Onkel Ahmets Narr-Bar neigt sich dem Ende zu, die Ersten sind schon gegangen. Am Tisch wird die politische Lage in der Türkei debattiert. Seit dem Sieg bei der Istanbuler Bürgermeisterwahl 2019, die Ekrem İmamoğlu trotz der von der Regierungspartei AKP forcierten Wiederholung gewann, hat die Opposition Hoffnung geschöpft. Exiljournalist Can Dündar kündigte bereits an: „Die Ära Erdoğan geht zu Ende.“ Ob sie zurück in die Türkei gehen werden, sollten sich die Verhältnisse dort ändern? „Sofort!“, sagt Berna. Die anderen sind sich da nicht so sicher. Sie haben sich schon zu sehr an das freie Leben in Deutschland gewöhnt. Einige werden dauerhaft in Deutschland bleiben und die ohnehin schon heterogene deutsch-türkische Gemeinschaft noch vielfältiger machen.