Stress, körperliche und emotionale Belastung, Überstunden, unterbesetzte Teams – und das alles bei niedriger Bezahlung. Kein Wunder, dass immer weniger junge Menschen freiwillig in die Pflege gehen. Das durchschnittliche Monatsbruttogehalt eine:r Krankenpfleger:in liegt zwischen 2.170 Euro und 2.490 Euro. Zum Vergleich: Eine nach Tarif beschäftigte Grundschullehrer:in in Berlin verdient monatlich rund 5.850 Euro. Gleichzeitig aber werden immer mehr Menschen immer älter und viele davon auch pflegebedürftig. Schon jetzt fehlen in deutschen Kliniken laut Hans-Böckler-Stiftung mehr als 100.000 Vollzeitstellen für Pflegerinnen und Pfleger.
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Das Deutsche Krankenhausinstitut hat die voraussichtlichen Fallzahlen in deutschen Kliniken, Pflegeheimen und bei ambulanten Pflegediensten bis 2030 berechnet. Laut dieser Schätzung würde dort bei unverändertem Personalschlüssel der Personalbedarf zwischen 2015 und 2030 um über ein Viertel steigen. Der sogenannte Pflegenotstand verschärft sich. Die Pflege-Initiative „Walk of Care“ fordert eine gesetzliche Personalbemessung, bessere Ausbildungsbedingungen, eine Fort- und Weiterbildungsordnung, politische Mitbestimmung aller Gesundheitsberufe und eine gerechtere Finanzierung des Gesundheitssystems. Wir haben mit drei Aktivist:innen aus verschiedenen Städten gesprochen und sie gefragt, was ihre drängendsten Forderungen sind.
„Aus Zeitnot ist es oft unmöglich, pflegerische Aufgaben so zu erfüllen, wie ich es in der Ausbildung gelernt habe“
Georg, 20, Auszubildender in Berlin
„Mich stört vor allem der Personalzustand. Momentan orientiert sich die Personalbemessung nicht an pflegewissenschaftlichen Standards. Stattdessen wird das System irgendwie gerade so am Laufen gehalten. Folglich muss ich jeden Tag den Spagat machen zwischen Theorie und Praxis. Aus Zeitnot ist es oft unmöglich, pflegerische Aufgaben so zu erfüllen, wie ich es in der Ausbildung gelernt habe. Manchmal schaffe ich es beispielsweise nicht, bettlägerige Patient:innen richtig zu drehen. So können sich lagerungsbedingte Druckgeschwüre bilden. Derzeit würde ich nicht wollen, dass meine Großeltern ins Krankenhaus müssen, weil sie nicht vollumfänglich versorgt werden können.
Deutsche Krankenhäuser werden nach DRG-Fallpauschalen finanziert. Das heißt: Auf Grundlage deiner Diagnose ist in einem Katalog festgelegt, wie viel Geld das Krankenhaus für deine Behandlung bekommt und wie lang die durchschnittliche Liegedauer ist. Wenn du länger bleibst, macht die Klinik Verlust. Das System funktioniert also nur, wenn Patient:innen so kurz wie möglich da sind. Wegen Covid wurden viele OPs verschoben. In der Urologie hatten wir da zeitweise eine Warteliste von 400 Patient:innen – Menschen mit Hoden- oder Prostatakrebs –, die vier Wochen warten mussten. Wir hatten auf einmal sieben OPs mehr in der Woche, auf einmal auch samstags. Obwohl wir davor schon am Limit gearbeitet haben.
Da fällt mir auch das Stichwort ‚blutige Entlassungen‘ ein: Manchmal werden Menschen mit noch nicht abgeschlossener Wundheilung entlassen. Das kann gut gehen, muss es aber nicht. Eventuell bildet sich zu Hause eine chronische Wunde bei der Patient:in. Auf Station merken wir das sofort, zu Hause stehen die Chancen schlecht. Die Gewissensbisse belasten einen sehr. Wenn der Alltag so aussieht, weiß ich jetzt schon, dass ich nach der Ausbildung auf gar keinen Fall in Vollzeit arbeiten kann.“
„Auf einen ausländischen Namen reagierten meine Kolleg:innen abschätzig: ‚Oh Gott, was ist denn das für einer?‘“
Lieselotte, 22, Pflege-Studierende in Halle
„Meist unterscheidet sich das Patientenklientel auf Station in Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität, Einkommen sehr. Gerade bei älteren Kolleg:innen zeigen sich teils rassistische Denkweisen, auch Patient:innen gegenüber. Das fängt oft schon beim Namen eines neuen Patienten an – noch bevor man ihn zu Gesicht bekommt. In einem meiner Praxiseinsätze wurde mal ein Patient mit ausländisch klingendem Namen angemeldet. Meine Kolleg:innen reagierten abschätzig: ‚Oh Gott, was ist denn das für einer?‘ Tja, dann kam da ein weißer Cis-Mann herein, ein gebildeter Prof. Dr. Soundso, und auf einmal biederten sie sich an und behandelten ihn nach bester Manier. Und wenn das jetzt nicht dieser weiße Cis-Mann gewesen wäre, verdient er nicht denselben Respekt?
Auf einer anderen Station habe ich mitbekommen, wie ein Mann nach einer schweren Nasen-OP nach Schmerzmitteln fragte, aber keine bekam. Nach dem Motto: ‚Ach, der soll sich mal nicht so haben. Wieder so einer mit Mittelmeersyndrom.‘ Das ist ein verbreitetes Vorurteil in der Pflege, nach dem aus dem Mittelmeerraum stammenden Personen ein übersteigertes Schmerzempfinden attestiert wird.
Gerade ältere Kolleg:innen verharren leider oftmals in konservativen Denkmustern, aber auch in den veralteten pflegewissenschaftlichen Standards, die sie noch aus ihrer Jahrzehnte zurückliegenden Ausbildung kennen. Deshalb würde ich mir wünschen, dass es für alle Pflegenden Pflichtweiterbildungen etwa zur Vermeidung diskriminierender Verhaltensmuster gäbe.“
„Eine Ärztekammer gibt es schon lange auf Landes- und auf Bundesebene, aber eine Kammer für die Pflege formiert sich erst jetzt“
Lola, 51, Krankenschwester und Pflegewissenschaftlerin in Hamburg
„Wird momentan über Pflege gesprochen, wird leider immer noch oft ein:e Mediziner:in interviewt, selten aber ein:e Pflegende. Eine Ärztekammer gibt es schon lange auf Landes- und auf Bundesebene, aber eine Kammer für die Pflege formiert sich erst jetzt allmählich. So eine Kammer bedeutet ja, dass der Staat einer Berufsgruppe zutraut, dass sie ihre Arbeit selbst organisieren kann. Dass die Pflege entscheidet, was gute Pflege ist. Wenn ihr mich fragt: Wer denn bitte auch sonst?
Zwar leiden viele in der Pflege unter den Missständen, doch nur wenige sind so konsequent zu sagen: Hey, wir verändern was. Die Gründe finde ich nachvollziehbar: Dass man nach einer Achtstundenschicht keine Kapazitäten hat, um noch demonstrieren zu gehen, leuchtet mir ein. Außerdem haben Pflegende eine hohe Verantwortung und sind leicht erpressbar. Viele von uns können ihre Kolleg:innen und Patient:innen nicht im Stich lassen. Zumindest nicht, ohne sie im Zweifel dem Tod zu überlassen.
In Hamburg ist die Menge an ‚Walk of Care‘-Unterstützenden überschaubar. Es fehlt an Motivation, Energie und gerade auch an jungen Menschen. Bei uns ist die jüngste Person 30 Jahre alt. Umso schöner, wenn ich dann den Blick auf Berlin richte, wo mehr junge Leute teilnehmen: Da wird der Pflegeberuf so richtig gefeiert. Das vermittelt, wie schön der Beruf sein kann – zumindest wenn er nicht durch gewinnorientiertes Wirtschaften schikaniert wird. Von diesem Enthusiasmus braucht es mehr. Die Botschaft ist klar: Irgendwas muss jetzt passieren – sonst gibt es in ein paar Jahren niemanden mehr, der den Beruf machen will.“
Fotos: Fabian Sommer / picture alliance / dpa