„No Tories – it’s a deal breaker.“ Wer derzeit im Vereinigten Königreich jung ist und konservative Ansichten hat, scheint auf Dating-Apps kaum noch Chancen zu haben. Sally Rooney, die selbst deklarierte marxistische Autorin aus Irland, erfreut sich auch in Großbritannien großer Beliebtheit und ist als angebliches Sprachrohr dieser Generation in vielen Lesezirkeln ein Muss. In den Univierteln des Landes wird auf Plakaten wieder vermehrt gegen Imperialismus und Kapitalismus aufgerufen, die Boykottaufrufe und Forderungen nach Entkolonialisierung werden lauter. Manche glauben, ein „Great Leftist Britain“ zu erkennen.
Noch vor ein paar Jahren klebte das Vorurteil gähnender politischer Apathie an jüngeren Menschen im Vereinigten Königreich. 2005 hatten nur 37 Prozent der 18 bis 24 Jahre alten Wahlberechtigten bei den Nationalwahlen ihre Stimme abgegeben. Heute, mit Blick auf die teils linksextreme Umweltbewegung „Extinction Rebellion“, sprechen manche von einer überpolitisierten und besonders linksorientierten Generation Z und Y. 2018 begannen in Großbritannien Fridays-for-Future-Schulstreiks und Black-Lives-Matter-Proteste. 2017 und 2019 gaben jeweils 54 und 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen ihre Wahlzettel ab. 62 Prozent wählten in beiden Wahlen die eher linke Labour-Partei – 24 Prozentpunkte mehr als noch 2005.
Der Brexit hat die Unterschiede in Großbritannien nicht geschaffen – aber zu Tage befördert
Eine von ihnen ist die 23-jährige Anthropologiestudentin Roshni Chauhoun aus Milton Keynes, 80 Kilometer nordwestlich von London. Ihre Familie habe traditionell Labour gewählt, erzählt Roshni. Dazu hätte die Partei wichtige Dinge versprochen, darunter die Abschaffung der hohen britischen Studiengebühren und das Ende der Privatisierung des Gesundheitssystems.
Für viele junge Menschen in Großbritannien scheint die Wahl der Labour Party aber nicht genug zu sein. Das zumindest suggeriert die kürzlich veröffentlichte Studie „Left Turn Ahead“ der britischen Denkfabrik Institute of Economic Affairs (IEA). Bis zu 78 Prozent aller Brit:innen unter 40 machen demnach den Kapitalismus für verschiedene Missstände wie Klimaprobleme, Rassismus oder Wohnungsnot verantwortlich.
Sie glauben: Der Kapitalismus diene lediglich Eigennutz, Gier und Materialismus. 75 Prozent der Befragten glaubten, der Sozialismus sei eine gute Idee, die in bisherigen Versuchen schlichtweg schlecht umgesetzt worden sei.
Laut Professor Bobby Duffy vom Policy Institute des Londoner King’s College hat das Interesse der jüngeren britischen Generationen für linke Politik seit dem Brexit-Referendum besonders stark zugenommen. In seinem letzten Buch „The Generation Myth“ untersucht Duffy, inwiefern Generationszugehörigkeiten politische Orientierungen bestimmen. Der Brexit sei nicht der Auslöser des neuen politischen Engagements gewesen, sondern hätte Unterschiede deutlicher gemacht. „Beim Brexit ging es größtenteils um Haltungen zu Themen wie Einwanderung, Integration, Nationalstolz und britische Tradition. Während sich ältere Britinnen und Briten eher im die Vergangenheit hochpreisenden Pro-Brexit-Lager verschanzten, siedelten sich jüngere, weltoffenere Generation im Remain-Lager an.“
Sind Menschen unter 40, allen voran die Gen Z, in Großbritannien also dem Sozialismus verfallen? Laut Duffy nicht ganz, denn die derzeitigen jüngeren Generationen unterschieden sich von vorherigen noch in weiteren Bereichen: „Jüngere Menschen sind heute selbstverantwortlicher. Sie glauben weniger daran, dass der Staat sie mit Arbeitslosenhilfe unterhalten muss.“ Das erinnert – mit Blick auf Deutschland – eher an die Idee der „sozialen Marktwirtschaft“ als an Sozialismus, der hierzulande auch mit politischen Eliten, Machtmissbrauch und eingeschränkten Grundrechten assoziiert wird.
Die 19 Jahre alte Londoner Geografiestudentin Thea Hine zum Beispiel sieht keinen Widerspruch zwischen klaren Aufgaben für den Staat und wirtschaftlicher Eigenverantwortung. Menschenrechte, Chancengleichheit, Gesundheitsversorgung, Sozialfürsorge und Bildung – solche Dinge müsse die Regierung gewährleisten, meint sie. Dabei gebe es aber auch Grenzen: „Für mich ist die Frage, wo diese Hilfe endet. Wenn du Leuten zu viel Unterstützung gibst, fehlt ihnen jeglicher Grund, sich anzustrengen.“
Alistair Duffey, Promotionsstudent in der Umweltforschung glaubt, ein Blick nach Skandinavien könne helfen. Dort führen höhere Steuern zu besserer Sozialfürsorge. Doch mehr staatliche Gelder allein reichten nicht, sagt der 24-Jährige. Manchmal könne dieser Weg Probleme sogar verschlimmern. Bestes Beispiel: die kürzliche Abschaffung der britischen Grundsteuer für den Hauskauf. Die half am Ende nicht denen, für die sie gedacht war – jüngeren Brit:innen, die sich ihre erste Wohnung kaufen wollen –, sondern den großen Bauunternehmen.
Einer derer, die mit dem Begriff „Sozialismus“ keine Probleme haben, ist der 16-jährige Aden Harris aus dem westenglischen Bristol. Auf den letzten Labour-Parteitagen traute er sich zum ersten Mal ans Redner:innenpult und plädierte dort für einen „radikalen, internationalen, sozialistischen Green New Deal“.
Harris nennt seine Gründe: Um sich das College leisten zu können, müsse er Geschirr spülen, während er sich eigentlich auf seine Ausbildung konzentrieren sollte – und das für jemanden, der viel mehr habe als er und davon profitiere. Er meint damit den Inhaber des kleinen Restaurants, in dem er arbeitet. Und jemanden daten, der seine Ansichten nicht teilt? Swipe left, please.
Wenn die politische Haltung zum Teil der eigenen Identität wird
Professor Duffy überraschen solche Statements nicht. Die Polarisierung im Vereinigten Königreich sei zwar lange nicht so ausgeprägt wie etwa in den USA, wo es regelrechte Kulturkämpfe gebe. Dennoch siedelten sich zu den Brexit-Identitäten, also der Frage, ob man für „remain“ oder „leave“ gestimmt hat, immer weitere Interessen an. Am Ende werde so aus einer politischen Haltung eine ganze kulturelle Identität, erklärt Duffy.
Die britischen Konservativen versuchten zwar, mit Aufbauprogrammen in strukturschwachen Regionen und Investitionen ins Gesundheitssystem auch soziale Themen zu setzen, um jüngere Generationen anzusprechen. „Wenn sie weiter den Nationalstolz betonen und ein Großbritannien der Vergangenheit beschwören, passen diese politischen Ideale aber nicht ins Weltbild der meisten in den jüngeren Generationen“, so Duffy. Diesen antikonservativen Ruck würden auch soziale Medien verstärken. „Likes heben extremere Haltungen hervor. Das kann am Ende zu einer derartigen Kluft führen, dass Menschen nicht mehr nur verschiedener politischer Meinung sind, sondern die anderen für schlichtweg diabolisch halten.“
Der Londoner Nathan Paley, 20, studiert Kunstgeschichte. Er glaubt, bereits die Grenzen linker Solidarität unter Gleichaltrigen erfahren zu haben. „Es gibt Leute aus dem linken Flügel, die stets betonen, dass für sie alle Menschen okay sind – und dann stößt du plötzlich auf ihre antisemitischen Narrative, etwa dass angeblich alle Unternehmen von Zionisten und Israel gelenkt werden. Wer zu weit in die eine oder andere politische Richtung schreitet, endet beim Totalitarismus.“