Eigentlich hätte Mayumi Yamashita gerne Kinder, sagt sie und blickt kopfschüttelnd vom Balkon ihrer Wohnung im Westen Tokios. „Aber so wichtig scheint es den Entscheidern in diesem Land ja nicht zu sein.“ Die 37-Jährige ist Managerin bei einem großen japanischen Kleidungshersteller und hat das Gefühl, in Japan müsse man sich entscheiden: Familie oder Karriere. Bei ihr sieht es so aus, als würde es letzteres werden. Im Moment ist Mayumi Yamashita Single, aber auch in Beziehungen sei es mit Kindern nie konkret geworden. „Es gibt so viele Gründe, die dagegensprechen.“ Da seien die Opfer, die man als Frau im Berufsleben bringen müsse – und natürlich das Geld. Zwar verdient sie in ihrer Position mehr als den Durchschnittsjahreslohn von 308.000 Yen (rund 24.000 Euro). „Aber Kinder sind leider teuer. Deswegen muss man sich das sehr gut überlegen.“
Japan gehen die Menschen aus
Ein Beleg für das, was Mayumi Yamashita anekdotisch berichtet, wurde im Frühjahr 2021 amtlich vorgelegt. Einmal mehr ist in Japan die Zahl von Kindern im Alter von unter 15 Jahren gesunken. Das Innenministerium berichtete, dass es im Land von 126,5 Millionen Menschen nur noch 14,93 Millionen Kinder bis 15 Jahre gebe. Es ist das 40. Jahr in Folge, in dem dieser Wert sinkt. Der Bevölkerungsanteil von Kindern liegt derzeit bei 11,9 Prozent. 1950, kurz nach Japans Babyboom, war der Anteil noch dreimal so hoch. In keinem Industriestaat leben relativ zur Gesamtbevölkerung so wenige Kinder wie in Japan. Zum Vergleich: Im demografisch ebenfalls schnell alternden Deutschland sind derzeit immerhin 13,6 Prozent jünger als 15. In Österreich sind es 14, in der Schweiz 15 Prozent. Dagegen ist der Anteil von Senioren ab 65 mit 28 Prozent nirgends so hoch wie in Japan. Weil jährlich mehr Menschen sterben als zur Welt kommen und zudem die Einwanderungspolitik äußerst streng ist, nimmt die Zahl der in Japan lebenden Gesamtbevölkerung seit Jahren ab. Diese demografische Entwicklung ist einer der wichtigsten Gründe, warum auch Japans Volkswirtschaft schon länger stagniert. Wo Produzenten und Konsumenten weniger werden, wird es schwieriger, ein positives Wirtschaftswachstum zu erzielen.
Das Familien- und Beziehungsleben in Japan ist oft auf Funktionales konzentriert. Man teilt sich Aufgaben, sieht sich morgens früh und abends spät. Die Pandemie hatte in dieser Sache für einen Funken Hoffnung gesorgt. Durch das Homeoffice und die wiederholten Appelle der Regierung, die Menschen sollten möglichst zu Hause bleiben, hat die gemeinsam verbrachte Tageszeit bei Paaren zugenommen. Und die oft ohnehin schon langen japanischen Arbeitstage haben sich vor Corona nicht selten dadurch ausgedehnt, dass Vorgesetzte nach Feierabend zum gemeinsamen Trinken aufforderten. Diese Abende sind zeitweise ganz ausgefallen – und bis jetzt weniger geblieben.
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Mayumi Yamashita arbeitet seit Beginn der Pandemie ein bis zwei Tage von ihrer Wohnung aus. Mehr Zeit habe sie deshalb nicht, sagt sie. Etwas Ähnliches berichtet Yumi Nakata, eine 40-jährige selbstständige Designerin. Auch sie nimmt jetzt mehr Termine von daheim wahr, aber: „Mit meinem Freund verbringe ich auch jetzt nicht viel mehr Zeit als vorher.“ Nakatas Freund hat eine feste Anstellung mit einem durchschnittlichen Lohn. Das Paar hätte auch prinzipiell einen Kinderwunsch. Doch selbst mit doppeltem Einkommen, mehr Zeit zu Hause und immerhin einer festen Stelle können sie sich nicht vorstellen, dass das funktionieren würde.
Sie sind damit nicht allein. Ende März meldete das Gesundheitsministerium in Tokio, dass die Geburtenzahl im Januar 2021 knapp 15 Prozent unter dem Vorjahresmonat lag. Für das gesamte Jahr 2020 wird davon ausgegangen, dass die Geburtenzahl insgesamt unter 850.000 liegt. Auch dies wäre ein Rekordtiefwert. Dabei wünschen sich die meisten Personen in Japan, was für Industrieländer typisch ist, laut Befragungen ungefähr zwei Kinder. Schon vor der Pandemie brachten Frauen in Japan im Schnitt aber nur 1,4 Kinder zu Welt.
Woran scheitert es? Yumi Nakata gibt die Antwort, die die meisten Frauen geben: „Die Ausbildung von Kindern ist teuer.“ Allein eine öffentliche Schule kostet 40.000 Yen im Monat (rund 300 Euro). Das wäre noch günstig. Wer sein Kind auf eine bessere Schule schicken will, muss deutlich mehr zahlen. Dann kommt noch Nachhilfeunterricht obendrauf. Den nimmt so ziemlich jedes Kind in Japan. In den sieben Jahren von der Oberschule bis zum Universitätsabschluss, den in Japan die meisten machen, kosten Kinder durchschnittlich knapp zehn Millionen Yen (rund 77.000 Euro). Und bei all diesen Ausgaben springt der Staat kaum ein.
Elternzeit? Traut sich in Japan kaum jemand zu nehmen
Auch die seit einigen Jahren bestehende Möglichkeit, in Elternzeit zu gehen und Elterngeld zu beziehen, nimmt kaum jemand in Japan wahr. „Mein Chef hat mir ziemlich klar gesagt, dass ich Elternzeit zwar nehmen kann. Aber dann würde ich meine jetzige Position verlieren“, sagt Mayumi Yamashita. „Außerdem solle ich mir überlegen, ob ich wirklich meinen Kollegen Mehrarbeit aufdrücken will.“ Der Druck auf Eltern, insbesondere Mütter, in der japanischen Arbeitswelt ist generell hoch. Unter Arbeitgebern herrscht die Erwartungshaltung vor, dass sich weibliche Arbeitskräfte mit der Schwangerschaft aus dem Job verabschieden und dann im Familienleben die Hausfrauenrolle einnehmen. Aus pragmatischen Gründen täten Frauen mit Kinderwunsch gut daran, nach Männern mit einem festen und hohen Einkommen zu suchen. Doch selbst wenn sie sich auf diesen Pakt einlassen würden: Auf Japans prekärem Arbeitsmarkt sind diese Männer Mangelware. Rund die Hälfte der Menschen unter 25 Jahren hat keine Festanstellung.
Ende Juni 2021 empfahl die Regierung Unternehmen, eine Viertagewoche einzuführen. Wenn die Menschen weniger arbeiteten, hätten sie vielleicht mehr Zeit für Familienleben. Ayano Ishizuka hat über die Regierungsempfehlung, die Arbeitswoche zu verkürzen, nie etwas von ihrem Arbeitgeber gehört. Kurz nach sechs Uhr abends, nach ihrem Feierabend im Norden von Tokio, sucht die 27-jährige IT-Beraterin ein Café auf, um ihre Gedanken per Videocall zu schildern. „Ich arbeite jeden Tag offiziell von neun bis sechs Uhr abends. Was das Zeitmanagement angeht, ist mein jetziger Job schon viel angenehmer als der davor. Jetzt habe ich in der Regel die Wochenenden frei und komme oft auch abends um sechs Uhr aus dem Büro.“
Aber Flexibilität für Auszeiten kenne sie aus der japanischen Arbeitswelt generell kaum. „Im Moment bin ich Single und habe deshalb keine Probleme, länger zu arbeiten, und auch keine konkreten Kinderpläne“, sagt Ayano Ishizuka. „Aber ich weiß auch von anderen Kolleginnen, dass es als Angestellte in Japan nicht gerade einfach ist, beides unter einen Hut zu bringen.“
Die Idee der Regierung, dass Betriebe ihrer Belegschaft einen zusätzlichen freien Tag ermöglichen sollten, findet sie trotzdem nicht optimal. „Der Gedanke ist schon gut. Aber richtig hilfreich wäre es doch, wenn die Arbeitszeitgestaltung insgesamt flexibler wäre. Wenn mich meine Klienten zum Beispiel gerade nicht mit Fragen drängen, wäre es super, wenn ich einfach mal spontan freinehmen könnte.“
Aber so sei der japanische Arbeitsalltag eben nicht geregelt. Es werde ständige Anwesenheit erwartet. Und dies sei ein wichtiger Grund, warum die Geburtenrate im Land so gering ist. Denn viele Frauen mit Kinderwunsch stehen dann mit Ende 20 vor der schweren Entscheidung zwischen Karriere und Familie. Beides schaffen nur wenige.