fluter.de: Frau Marzock, Sie beraten Angehörige von Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben. Wie hoch ist der Bedarf?
Sonja Marzock: „entschwört“ gibt es seit Juli 2021 – seitdem haben sich etwa 130 Personen aus ganz Deutschland an uns gewandt. Anfragen, die nicht aus Berlin kommen, muss ich an Beratungsstellen in anderen Bundesländern verweisen: Bisher bin ich die einzige Beraterin und es kommen fast täglich neue Beratungsanfragen. Viele berichten, dass die Verschwörungserzählungen im Familienkreis seit der Pandemie klarer zutage treten. Dass Menschen an Verschwörungsmythen glauben, ist nicht neu. Es wird durch die Corona-Pandemie nur offenbarer.
Können Sie unter den Anfragen Bevölkerungsgruppen ausmachen, die besonders anfällig für Verschwörungsmythen zu sein scheinen?
Wir beraten häufig Kinder von Eltern, die in Rente sind und viel Zeit haben. Oft leben sie noch in den Heimatstädten oder -dörfern, während die Kinder in Städte gezogen sind. Aber Verschwörungsglaube geht durch alle Altersgruppen und Milieus. Sicher spielt der Bildungsgrad eine Rolle, aber nicht nur. Viele erzählen, dass die jeweiligen Angehörigen im Grunde intelligente und gebildete Menschen sind, die eigentlich rational handeln und denken können. Die Pandemie hat viele verunsichert, manche bis zum Kontrollverlust.
Und für die können Verschwörungserzählungen eine Krücke sein, die hilft, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzuerlangen?
Genau. Während der Pandemie hat sich der Alltag für uns alle verändert. Alltägliche Strukturen sind weggebrochen. Viele saßen den ganzen Tag vor dem Handy, sind auf Telegram oder YouTube unterwegs und können so tief in ihre Echokammern abdriften.
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Wie läuft eine Beratung bei Ihnen ab?
Mit drei, vier schnellen Tipps gegen Verschwörungsglaube ist es nicht getan. Wir sprechen meist 60 bis 90 Minuten mit den Angehörigen. Viele haben einiges versucht, bevor sie sich an „entschwört“ wenden, haben Verwandte mit Faktenchecks konfrontiert und es mit emotionalen Appellen versucht. Manchmal stellen die Menschen in der Beratung fest, dass sich die verschwörungsgläubige Person durchaus um Gemeinsamkeiten bemüht hat – sie das aber nicht wahrgenommen haben. Viele haben sich schon zurückgezogen, weil sie enttäuscht sind von der fehlenden Einsicht ihrer Verwandten. Manchmal hat sogar schon eine Art Trauerprozess eingesetzt, weil ihnen klar ist, dass sie jemanden an diese andere Realität verloren haben.
Und dann?
Geht es vor allem um die Frage, wie man damit zurechtkommen kann. Wir gucken gemeinsam, wie weit die Person, um die es geht, schon abgedriftet ist, inwiefern sie noch erreichbar sein könnte. Wir arbeiten positive Aspekte in der Beziehung heraus. Es gibt für diese Situationen keine allgemeingültigen Lösungen, das ist immer sehr individuell. Aber am Ende sollte eine Strategie stehen, wie man ein Gespräch mit dem oder der Verschwörungsgläubigen führen kann, wie man sich selbst positionieren oder abgrenzen kann.
Es scheint vor allem um die Angehörigen selbst zu gehen.
Allerdings. Verschwörungsgläubige haben oft ein starkes Mitteilungsbedürfnis, das zu einer Art Missionierungseifer anwachsen kann. Es ist belastend, sich das permanent anhören zu müssen oder dauernd Links geschickt zu bekommen. Dazu schmerzt es natürlich, wenn man mit einer nahestehenden Person nicht mehr dieselben Überzeugungen teilt oder die Person plötzlich nicht mehr zugänglich ist. Ich will entlasten, indem ich Raum schaffe und auch erkläre, was eigentlich hinter dem Verschwörungsglauben stecken kann. Der ist oft identitätsstiftend.
Wie das?
Man findet eine Gruppe, eine Echokammer, die eigene Ansichten spiegelt. Wenn alle derselben Meinung sind, erlangt man Kontrolle. Die Anforderungen an uns Individuen sind in der globalisierten Welt hoch, wir sind für fast alles selbst verantwortlich. Dem werden viele nicht gerecht. Wenn dann noch eine Krisensituation dazukommt – die Pandemie oder ein persönlicher Rückschlag –, versuchen manche, Verantwortung abzugeben. Etwa indem sie sich glauben machen lassen, es sei sowieso alles „von oben“ gesteuert. Verschwörungsmythen sind eine Bewältigungsstrategie. Nur eben leider eine sehr unsolidarische.
„Es bringt wenig, eine verschwörungsgläubige Person inhaltlich überzeugen zu wollen. Das gelingt nicht, wenn man sich in unterschiedlichen Realitäten bewegt“
Fällt es Angehörigen schwer, sich Außenstehenden anzuvertrauen?
Den meisten. Viele schämen sich für ein verschwörungsgläubiges Familienmitglied. Ich muss dazu auch immer wieder sagen, dass ich keine ausgebildete Psychotherapeutin bin. Meine Beratung ersetzt keine Psychotherapie oder Familienberatung. Ich kann aber zuhören. Und Grenzen aufzeigen. Denn bei aller Wertschätzung: Man muss nicht alles aushalten und nicht alles unwidersprochen stehen lassen. Besonders wenn es um antisemitische oder rassistische Erzählungen geht.
Vertieft man den Streit damit nicht weiter?
Es geht nicht zwingend darum, inhaltlich zu diskutieren, sondern vor allem darum, den eigenen Standpunkt klar zu vertreten. Nach meiner Erfahrung bringt es wenig, immer weiter Fakten auszutauschen und die verschwörungsgläubige Person inhaltlich überzeugen zu wollen. Das gelingt nicht, weil man sich in unterschiedlichen Realitäten bewegt. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man immer nur den eigenen Anteil in der Beziehung verändern kann. Verschwörungsgläubige lassen sich erst mal nicht verändern.
Was kann man stattdessen versuchen?
Alte Muster durchbrechen, Gespräche anders führen, also zum Beispiel weg von einer inhaltlichen hin zu einer eher emotionalen Ebene. Man kann nach Gemeinsamkeiten suchen: Wir waren doch mal auf derselben Seite, sind früher auf Anti-Nazi-Demos gegangen. Wie kann es sein, dass du jetzt auf einer Querdenker-Demo stehst, gemeinsam mit bekannten Neonazis? Es geht darum, vom Problem wegzukommen, die Sache lösungsorientiert anzugehen. Vielleicht gelingt es, wieder einen gemeinsamen Alltag herzustellen oder gemeinsame Erlebnisse zu teilen, die nichts mit dem belastenden Thema zu tun haben.
Und wenn das nicht gelingt? Gibt es einen Punkt, an dem es in Ordnung ist, aufzugeben?
Selbstverständlich. Es geht immer auch darum, auf sich selbst zu gucken: Wie geht es mir mit der Beziehung? Kann ich mich abgrenzen? Oder steht permanent das Thema im Raum? Dann kann man sich auch zurückziehen. Das muss ja nicht für immer sein.
Auch wenn es zum Beispiel um die eigenen Eltern geht?
Ja. Die Belastung ist ja für Familienangehörige auch deshalb so enorm, weil es um enge und wichtige Beziehungen geht.
Was berichten Ihnen Angehörige?
Dass sie von ihnen nahen Menschen beschimpft, beleidigt und verspottet werden. Das ist gerade in Partnerschaften sehr schmerzhaft oder auch bei Getrenntlebenden, wenn es gemeinsame Kinder gibt. Da geht es teilweise bis hinein in Fragen des Sorgerechts, etwa wenn ein Elternteil keine Impfung will oder sich das Kind nicht testen lassen darf und dadurch von vielem ausgeschlossen ist.
Reicht eine Sitzung für all das?
Wir führen manche Beratungen nach dem ersten Treffen weiter. Außerdem haben wir mittlerweile eine Gruppe aufgebaut, in der sich Betroffene austauschen.
Frau Marzock, würden Sie sagen, dass Verschwörungsmythen eine Gefahr für die Demokratie sind?
Zunächst mal ist belegt, dass antisemitische und rassistische Verschwörungserzählungen dazu führen, dass antisemitische und rassistische Angriffe zunehmen. Ich persönlich beobachte auch, dass Demokratiefeindlichkeit und Verschwörungsglaube oft zusammen auftreten. Das ist ein Stück weit logisch: Viele Verschwörungsgläubige suchen einfache Antworten auf die komplexen Zusammenhänge des Weltgeschehens – und machen dabei Verbindungen aus, wo keine sind. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie nichts und niemandem mehr vertrauen, auch nicht dem Staat oder der Demokratie als solcher. Das macht empfänglich für Umsturzfantasien.
Sonja Marzock, 34, ist systemische Beraterin. Sie hat Politikwissenschaft, Genderstudies und Sozialwissenschaften studiert und leitet seit Juli 2021 „entschwört“. Die Beratungsstelle ist ein Projekt von pad – präventive, altersübergreifende Dienste im sozialen Bereich – gGmbH und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (MBR).