– „Zahlen lügen nicht!“
– „Tränen lügen nicht.“
– „Tränen?“
– „Zahlen?“
Wir leben in einer vermessenen Welt. Zahlen sind allgegenwärtig, als Zensuren, Ratings, Bilanzen, Preise, Körpermaße, Klickzahlen, Umfragen, Statistiken aller Art. Die Ordnungen der Zahlen geben der komplexen arbeitsteiligen Gesellschaft einen rationalen und zugleich extrem dynamischen Rahmen. Sie helfen uns, zu erfassen, was die Wirklichkeit ist und die Zukunft bringen kann. Sie sind Grundlage von Entscheidungen und der Berechnung von Risiken. Diese machtvolle und universelle Mathematisierung der sozialen Verhältnisse ist längst nicht abgeschlossen. Wir wissen ungeheuer viel, aber wissen wir das Richtige?
Mathematik ist eine Leitwissenschaft, aber nur wenige haben wirklich fundierte Kenntnisse, die meisten eher Ehrfurcht oder gar unterschwellige Angst. Es gibt eine latente Zahlengläubigkeit und ein wenig entwickeltes Wissen, was Zahlen beziehungsweise Berechnungen aussagen und wie sie zustande kommen. Mathe gehört an vielen Schulen zu den unbeliebtesten Fächern, und die Methoden ihrer Vermittlung könnten oft ermutigender sein.
In öffentlichen Debatten ist die autoritäre Versuchung groß, das Ansehen der Mathematik auf sich zu übertragen und die jeweils passenden Zahlen als scheinbar alternativlose Logik ins Spiel zu bringen.
Oft wird dann mit Zahlen und deren Objektivität argumentiert, anstatt Konflikte offen auszutragen. Ein scheinbarer Sachzwang macht es Politikerinnen und Politikern einfacher, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Doch oft werden die Konflikte damit nur verlagert.
Wir haben in der Pandemie selbst einiges gelernt über Zahlen, ihren Nutzen und die Grenzen ihrer Geltung, die Beweglichkeit dieser Grenzen. Wir sind dabei bewusst abwägender geworden und mussten erfahren, dass es jederzeit anders kommen kann. Es liegt durchaus auch eine politische Tugend darin, wenn diese Erfahrungen bei der Verständigung über Werte, Interessen und Prioritäten in Konfliktsituationen genutzt werden können.
Klimakrise, soziale Ungleichheiten, ökonomische Krisen, technologische Revolutionen – auch in den drängendsten Fragen der Gegenwart geben Zahlen Hinweise auf die Dimensionen der anstehenden Probleme und Entscheidungen. Welche Daten, welche mathematischen Modelle, Methoden und Disziplinen werden relevant für diese Zukunftsfragen?
Wir brauchen einen neuen Mut zur Mathematik und ein selbstbewusstes Verhältnis zu ihrem Gebrauch in komplexen Situationen. Eine reichere Kenntnis der mathematischen Disziplinen würde die Gesellschaft kritikfähiger und ihren Zusammenhalt nachhaltiger machen. Zahlen sind unverzichtbar, aber nicht das Entscheidende.