Wer kennt es nicht: dieses Gefühl, wenn der Notendurchschnitt der Klassenarbeit an die Tafel geschrieben wird und man unauffällig im Klassenraum die ängstlichen Gesichter auszumachen versucht. Wie gut stehe ich da? Oder bringe ich die nächste Vier mit nach Hause? „Ich halte es für wichtig, vom Notensystem wegzukommen“, sagt Imke Hamann. „Es erzeugt extrem viel Druck, und man verliert etwas den Spaß an der Schule.“ Die 16-Jährige besucht aktuell die zehnte Klasse der IGS List in Hannover. Noten hat sie erstmals in der achten Klasse bekommen. Davor bestand die Leistungsbewertung aus einer Feedbackkultur, für die ihre Schule 2018 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde.
„Ich halte Noten nicht für lernförderlich“, stimmt auch Schulleiterin Petra Hoppe zu. „Sie führen dazu, dass sich die Schülerinnen und Schüler untereinander vergleichen, und zu Frustration.“ Mit dieser Meinung ist die 56-Jährige nicht allein. Seit Jahren wird über den Sinn von Schulnoten gestritten. Verschiedene Studien haben nachgewiesen, dass Noten nur bedingt aussagekräftig sind. Das fängt bereits beim Notendurchschnitt an der Tafel an: So können sich Schülerinnen und Schüler zwar im Vergleich zur eigenen Klasse einschätzen. Der Vergleich mit anderen Klassen, Schulen oder sogar Bundesländern ist jedoch kaum möglich. Zudem: Wie die Noten entstanden sind, bleibt oft unklar und ist auch je nach Leistungsstärke der Klasse verschieden.
„Eine Drei sagt bei dem einen Schüler etwas ganz anderes aus als bei einem anderen Schüler“
Mit der Einführung des Zentralabiturs sollte zumindest eine Vergleichbarkeit innerhalb der einzelnen Bundesländer erreicht werden – schließlich schwitzen dort dann alle vor denselben Abituraufgaben. Doch trotz vorgegebener Bewertungskriterien hängt besonders in den Sprachen oder gesellschaftlichen Fächern viel von der Einschätzung der einzelnen Lehrkräfte ab. Dennoch wird auch über ein bundesweites Zentralabi diskutiert, um die schulischen Leistungen besser vergleichen zu können.
Aber wäre ein Zentralabi wirklich gerechter? Schulleiterin Hoppe hat Zweifel. „Eine Drei sagt bei dem einen Schüler etwas ganz anderes aus als bei einem anderen Schüler.“ So kann etwa bei der einen die mündliche Mitarbeit gut sein, während der andere bei Klassenarbeiten glänzt. Auch persönliche Entwicklungen und Lernerfolge können Noten nicht darstellen. Eine Note, die für sich steht, ist nicht in der Lage, die Bandbreite und Vielfalt der einzelnen Fächer treffend abzubilden. So sagt etwa eine Zwei in Deutsch wenig darüber aus, ob der Schüler oder die Schülerin über eine gute Grammatik und Rechtschreibung verfügt, kreativ schreiben kann oder pointiert Gedichte analysiert.
An Imkes Schule läuft es daher anders – statt Noten steht hier ein regelmäßiges Feedback im Vordergrund. Neben dem Lernentwicklungsbericht, kurz LEB, der halbjährig als Zeugnis dient, spielt auch die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler eine große Rolle. Regelmäßig füllen sie einen Feedbackbogen aus, in dem sie ihre Stärken und Schwächen einschätzen. Anschließend können sie sich mit Lehrkräften oder ihren Mitschülerinnen und Mitschülern darüber austauschen. „Das Ziel ist es, den Lernprozess in die Hände der Schülerinnen und Schüler zu legen“, erklärt Schulleiterin Hoppe die dahinterliegende Idee. Ergänzt wird dieses Feedback durch regelmäßig stattfindende Gespräche zwischen den Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie den Lehrkräften. Das gesammelte Feedback wird über das ganze Schuljahr im sogenannten Lernentwicklungsordner, LEO, zusammengetragen.
Dieses Bewertungssystem kommt auch bei den Schülerinnen und Schülern gut an. „Mich hat es immer motiviert, gesagt zu bekommen, was man gut gemacht hat, und auch, welche Punkte man noch verbessern kann“, sagt Imke. „Die Mischung den Gesprächen und Feedbackbögen, Lob und Kritik, macht es aus.“ Und ihr Mitschüler Joshua Derksen ergänzt: „Außerdem müssen die Lehrer das Feedback viel stärker begründen und erklären, warum sie einen so eingeschätzt haben. Das macht es im Vergleich zu Noten objektiver.“
Schulnoten erfüllen das Bedürfnis nach klarer Rückmeldung
Aber warum sind Noten bei all der Kritik noch immer vorherrschend im deutschen Bildungssystem? „Ich denke, Schulnoten sind einfach zu vergeben. Sie erfüllen das Bedürfnis nach Rückmeldung und implizieren einen objektiven Charakter, ohne dabei aber objektiv zu sein“, glaubt Schulleiterin Hoppe. Gerade an Bildungsübergängen, etwa vor dem Schulwechsel auf die weiterführende Schule oder die gymnasiale Oberstufe, aber auch nach dem Schulabschluss, erfüllen Schulnoten wichtige Funktionen: Sie sind einfach, verrechenbar und justiziabel. Das erkennt auch Rebecca Barchet. Die Schülerin steht kurz vor ihrem Wechsel in die gymnasiale Oberstufe. „Jetzt, kurz vor dem Abschluss der zehnten Klasse, ist es schon gut, zu sehen, welche Noten man hat. So kann man besser einschätzen, wo man steht, und sieht, wo man sich noch verbessern muss.“
Seit der achten Klasse bekommen auch Imke, Joshua und Rebecca Schulnoten – eine Regelung, die die Schule auch zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen in der zehnten Klasse getroffen hat. Eine Umstellung, an die sich die drei erst einmal gewöhnen mussten. „Die Noten erzeugen auf mich einen ziemlichen Druck. Wenn ich zuvor die Rückmeldung bekam, dass ich die Lernziele erreicht habe, war ich immer zufrieden. Um jetzt zufrieden zu sein, muss ich schon eine Eins oder Zwei schreiben“, erzählt Imke. Ein Anspruch, den sie nicht immer erfüllen kann und der ihr teilweise den Spaß an der Schule nimmt.