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Freiwilliger wird’s nicht

Alle Jahre wieder schallt aus der Politik der Ruf nach einem Pflichtdienst für Jugendliche. Dabei gibt es mancherorts mehr Freiwillige als Plätze

Nur ein müdes Lachen hat Susanne Huth für die Frage nach dem Pflichtjahr übrig: „Das ist eine wiederkehrende Sommerlochdebatte. Was wir brauchen, ist keine Pflicht sondern mehr Gelegenheiten“, sagt sie. Seit mehr als 15 Jahren forscht die Soziologin zu Freiwilligendiensten. 

Auch im vergangenen Sommer sprachen sich erst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dann Friedrich Merz für eine Pflichtzeit aus. So kann der Eindruck entstehen, es gebe nicht genug Freiwillige. Tatsächlich zeigen Untersuchungen: Bundesweit gibt es vor allem im urbanen Raum und außerhalb der Alten- und Behindertenhilfe mehr Freiwillige als Plätze. Im Klartext: Viele würden sich gerne engagieren, doch die Strukturen reichen dafür nicht aus. 

Circa 100.000 Menschen leisten in Deutschland jedes Jahr einen Freiwilligendienst. Die Zahl der Teilnehmenden unter 27 Jahren in Deutschland hat sich zwischen Ende der 2000er-Jahre und 2020 mehr als verdoppelt. „Die Freiwilligendienste sind so populär und verbreitet wie noch nie“, sagt Soziologin Huth. „So ein großes, gefördertes, gesetzlich geregeltes Programm gibt es europaweit nur in Deutschland.“ 

Das Problem mit den Gesetzen

Aktuell entscheiden sich circa elf Prozent der Abgänger*innen allgemeinbildender Schulen für einen Freiwilligendienst. Wo und wie für einen Pflichtdienst Hunderttausende zusätzliche Plätze geschaffen werden könnten, ist unklar. Ein Pflichtdienst könnte außerdem gegen das Grundgesetz verstoßen und sogar völkerrechtlich bedenklich sein – die Europäische Menschenrechtskonvention verbietet Zwangs- und Pflichtarbeit. 

„Hochgradig skeptisch“ steht auch Kristin Napieralla der Idee gegenüber. Sie ist Sprecherin des Bundesarbeitskreises FSJ. Der Kreis vertritt die Interessen von elf großen Verbänden, die jedes Jahr rund 60.000 Freiwillige begleiten. „Jeden Sommer kommt das Thema auf. Immer unter der Prämisse, dass Freiwilligendienste etwas gutmachen sollen, was gesellschaftlich, politisch oder arbeitsmarktrechtlich in die falsche Richtung läuft.“ 

Ein häufiges Argument für den Pflichtdienst: Personalmangel in der Pflege. Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, freut sich über freiwilliges Engagement. Doch sie stellt klar: „Ein soziales Pflichtjahr ist keine Lösung für den Personalmangel in der professionellen Pflege.“ Schon jetzt reiche die Zeit häufig nicht, um Auszubildende ausreichend anzuleiten. „Kommen noch Personen im sozialen Pflichtjahr hinzu, wird es noch enger. Und es steigt unweigerlich die Gefahr, dass pflegebedürftige Menschen Schaden erleiden.“ 

Mara Röger hat gerade einen Freiwilligendienst auf der Intensivstation eines Potsdamer Krankenhauses geleistet. Die 40-Stunden-Wochen haben die 19-Jährige herausgefordert. „In den ersten Wochen dachte ich, ich schaffe das nicht.“ Sie hätte lieber in Teilzeit gearbeitet, wie die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen. „Von den 40 Personen auf der Station haben nur drei in Vollzeit gearbeitet – und ich.“ Mara Röger musste zwei Wochen unbezahlten Urlaub nehmen, um sich auf den Medizinertest fürs Studium vorzubereiten. Aktuell ist Teilzeit für Freiwillige nur aus besonderen Gründen, wie der Pflege eines Angehörigen, möglich. 

Die Freiwilligendienste in Deutschland entstanden in den 1950er-Jahren im Umfeld der Kirchen und richteten sich insbesondere an Frauen aus dem Bürgertum. Das macht sich noch heute bemerkbar: Die durchschnittliche Freiwillige ist weiblich und hat Abitur.

Das Problem mit dem Geld

Männer sind hingegen unterrepräsentiert, und nur acht Prozent der Teilnehmenden haben einen Hauptschulabschluss. Zum Anteil der Freiwilligen mit Migrationsgeschichte gibt es nur veraltete und unzuverlässige Daten. Sie bewegen sich zwischen 6 und 18 Prozent für die verschiedenen Dienste. „Der Anspruch an die Freiwilligendienste ist, so inklusiv wie nur möglich zu sein, damit alle Bevölkerungsgruppen unabhängig von ihrer Herkunft oder sonstigen Voraussetzungen an den Chancen teilhaben können, die so ein Dienst bietet“, so Huth. Doch in der Praxis scheitert die Teilhabe oft. Ein zentraler Grund: Geld. 

Während des Dienstes auf der Intensivstation erhielt Mara Röger 325 Euro im Monat. „Wenn meine Eltern mich nicht finanziell unterstützt hätten, hätte ich es nicht machen können“, sagt sie. Mara Röger schlägt vor, auch Freiwilligen den Zugang zum BAföG-System zu öffnen. 

„Wir fordern seit Jahren freie Fahrt für Freiwillige“

Thomas Pösz betreut seit über 15 Jahren Freiwillige im FSJ Kultur in Nordrhein-Westfalen. Auch er erlebt: Immer wieder scheitert es am Geld. Theoretisch können Freiwillige Wohngeld beantragen. In der Praxis lehnen Ämter die Anträge regelmäßig ab. „Weil die Jugendlichen nur für ein Jahr zu Hause ausziehen, werden sie als ‚vorübergehend abwesend‘ eingestuft und haben dann keinen Anspruch.“ Pösz versucht in solchen Fällen, die Ämter anzurufen und vom Gegenteil zu überzeugen. Manchmal klappt es, oft nicht. „Es müsste einen klaren rechtlichen Anspruch auf Wohngeld geben“, fordert Pösz. Auch die Anrechnung des über 250 Euro hinausgehenden Taschengeldes auf etwaige Hartz-IV-Bezüge – dass das Geld also von dem, was die Freiwilligen gegebenenfalls an Arbeitslosengeld bekommen, abgezogen wird – lehnt er ab. 

Selbst die Anfahrt ist für viele Jugendliche ein Hindernis. „Wir fordern seit Jahren freie Fahrt für Freiwillige“, sagt FSJ-Sprecherin Kristin Napieralla. Sie meint im öffentlichen Verkehr. „Das 9-Euro-Ticket zeigt, wenn man das politisch will, geht es. Warum geht es dann nicht für junge Menschen, die sich engagieren?“ 

Mögliche Lösungen

Soziologin Huth hat im April in einer Studie  beschrieben, welche Maßnahmen für mehr Teilhabe von unterrepräsentierten Gruppen sorgen könnten. Unter anderem empfiehlt sie mehr Stellen, die auch Freiwillige ohne Abitur ansprechen. Bildungsreferent Thomas Pösz und sein Team setzen das bereits um. „Wir versuchen im FSJ Kultur nicht nur Plätze in der Theaterpädagogik oder Dramaturgie anzubieten, sondern auch handwerklichere Stellen in der Maske oder im Bühnenbild.“ Schon lange würde Pösz gerne auch mit Social-Media-Kampagnen gezielt Freiwillige anwerben. Doch aktuell dürfen die vom Bund für die Freiwilligendienste gezahlten Gelder nicht für Werbung genutzt werden.

Dass Veränderung im System der Freiwilligendienste möglich ist, hat Natalie Weiser erlebt. Die heute 20-Jährige wollte nach der Schule in den Gesundheitsbereich. „Durch mein FSJ im Krankenhaus habe ich gemerkt, das passt doch nicht.“ Aber etwas anderes passte gut: Während des FSJ engagierte sich Natalie Weiser auch als Sprecherin ihres Jahrgangs und trug die gemeinsamen Forderungen im Berliner Abgeordnetenhaus vor. Mit Erfolg: Die jahrelange Forderung nach einer Landesförderung des sozialen Jahres und mehr Taschengeld soll nun umgesetzt werden. „Durch dieses Engagement habe ich gemerkt, dass mich politische Abläufe sehr interessieren.“ Mittlerweile studiert sie im zweiten Semester Jura. „Es war wirklich ein sehr anstrengendes und auch heftiges Jahr. Aber es hat mich so viel weitergebracht. Es ist eine totale soziale Ungerechtigkeit, dass junge Menschen, die aus Elternhäusern kommen, die das FSJ nicht mitfinanzieren können, diese Möglichkeit und Riesenchance oft nicht haben.“

Titelbild: Helena Schaetzle/laif

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