In Giorgiana Hornarus Bad steht das Gras kniehoch, im Schlafzimmer blühen wilde Möhren. Giorgiana balanciert auf Holzplanken über ihr künftiges Zuhause. Bislang steht nur das Fundament, acht mal acht Meter, auf einer saftigen Wiese mit Talblick. Ein paar Kilometer abwärts ist Giorgiana aufgewachsen, im Zentrum von Romuli, knapp 2.000 Einwohner:innen, ein Bergdorf im Norden Rumäniens. Keine 50 Kilometer weiter beginnt die Ukraine.
Vor drei Jahren hat Giorgiana das Stück Land mit ihrem Freund gekauft. Jetzt ist sie 21, hat Anthropologie studiert und – wann immer es ging – am Haus gebaut.
Am Ende des Grundstücks haben die beiden Bäume gepflanzt, Äpfel und Kirschen. Kein Zufall, ohne Äpfel und Kirschen gäbe es dieses Haus gar nicht. Giorgiana und ihr Freund fahren regelmäßig zur Ernte nach Italien, den Lohn stecken sie in ihr Haus. Erst der Wasseranschluss, dann das Fundament, auf der Wiese türmen sich schon die Steine für die Außenmauern.
„2020 war ich das erste Mal ernten“, erzählt Giorgiana. Sechs Wochen wollten sie bleiben, Norditalien, Kirschernte. Es wurden vier Monate: In der Pandemie war das Reisen schwierig und nach den Kirschen kam der Blumenkohl, schließlich die Äpfel, und wenn es mal nichts zu tun gab, sammelten sie große Steine vom Feld. „Manchmal sechs Stunden, manchmal zwölf Stunden am Tag“, sagt Giorgiana. „Es war harte Arbeit.“ Für die habe sie 6,50 Euro pro Stunde bekommen.
„Ein schlechter Deal“, sagt Giorgiana heute. Freund:innen bekämen in Italien acht Euro, manchmal sogar zehn Euro pro Stunde. Damals war ihnen das egal. Nach der Arbeit rechneten sie gemeinsam die Monate durch, mehrere Tausend Euro, vielleicht würde es nach Wasseranschlüssen, Fundament und Wänden sogar noch für Fenster reichen. Also fuhren sie wieder.
„Habt ihr euch mal überlegt, was passiert, wenn die Osteuropäer nicht mehr kommen? Eure Länder wären ruiniert“
Überall in Romuli entstehen neue Häuser, entlang der Hauptstraße verdrängen mehrstöckige Paläste die Holzschuppen, feste Ziegel ersetzen Wellblech. Das Dorf, so wirkt es zumindest von außen, ist im Aufschwung. Viele hier arbeiten in Westeuropa. Wie viele, weiß nicht mal der Bürgermeister. Es gibt keine Statistik. Giorgianas Bruder liefert in Süddeutschland Pakete aus. Die Mutter ihres Freundes pflegt in Italien einen alten Mann. Der Nachbar hat ein Bauunternehmen in Italien gegründet. Ein Freund pflückt Erdbeeren in Schottland.
Jeder in Romuli kennt wen, der schon im EU-Ausland gearbeitet hat. Viele sind geblieben. Gut 40 Prozent aller Rumän:innen leben dauerhaft im Ausland, schätzt der zuständige Staatssekretär. Laut Europäischem Statistikamt schicken sie jährlich etwa sieben Milliarden Euro nach Hause.
Die Rumän:innen, die Giorgiana kennt, bauen, pflegen, schlachten, verpacken oder liefern. Sie sortieren, reinigen, kochen, servieren und ernten. Sie erledigen Aufgaben, die für Resteuropa essenziell sind und für die vielerorts die Fachkräfte fehlen. Und doch scheinen für sie nicht dieselben Regeln wie für Deutsche, Österreicher:innen oder Französ:innen zu gelten: Viele berichten von Ausschluss und Ausbeutung.
Elena Cira kennt das. Sie ist auch in Romuli aufgewachsen, keine 300 Meter von Giorgiana entfernt. Heute ist Elena 42 und kann von den ersten Bussen erzählen, die Menschen Anfang der 2000er aus Romuli zur Arbeit nach Westeuropa brachten. 2005 stieg sie zum ersten Mal selbst ein.
Der Bus fuhr sie nach Balingen in Baden-Württemberg. „Es war schwer, ich war bis dahin keinen Tag ohne meine Familie“, sagt Elena. In Balingen teilte sie sich mit vier Frauen eine kleine Wohnung, abends stiegen sie ins Auto, im Kofferraum Staubsauger, Mopp und Eimer. Elena putzte, erst das Fitnessstudio, dann mehrere Restaurants, dann ging die Sonne auf, und Elena legte sich schlafen. Acht bis zehn Stunden die Nacht, sechs Nächte die Woche, für 450 Euro im Monat, ohne Vertrag, bar auf die Hand. „Eigentlich lächerlich“, sagt Elena. „Aber damals war das viel mehr, als ich in Rumänien verdienen konnte.“
In den Jahren danach pendelte Elena: Rumänien, Österreich, Deutschland, Schweiz. Sie pflegte Menschen zu Hause, einen älteren Mann am Tegernsee, eine Dame in Rheinland-Pfalz, einen querschnittsgelähmten Fotografen in Vorarlberg. Das Modell heißt 24-Stunden-Betreuung: Die Betreuer:innen, meist Frauen aus Osteuropa, wohnen bei den Bedürftigen in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern zu Hause, sie unterstützen im Haushalt, manchmal pflegen sie, obwohl das eigentlich nicht zu ihren Aufgaben gehört. Der Markt ist in Deutschland kaum reguliert, viele der Frauen verdienen weniger als 1.500 Euro brutto für einen Job ohne echten Feierabend.
Weiterlesen
„Ich sag mal so: Ich wische hier euren Opas den Po ab.“ Zuletzt bekam Pflegepersonal viel Beifall, aber Danka* wünscht sich mehr als nette Gesten
„Ich achte nicht auf Arbeitszeiten“, sagt Elena. „Was gemacht werden muss, wird gemacht, ob Feiertag ist oder nicht.“ Und doch, sagt sie, sei sie in dieser Zeit oft an ihre Grenzen gekommen. Lange Arbeitszeiten, fehlende Sprachkenntnisse, gerade anfangs habe ihr medizinisches Wissen gefehlt.
Elena hat sich mit den Jahren weitergebildet, in Rumänien ließ sie sich zur Krankenschwester ausbilden. Sie hat Deutsch gelernt und die Gesetze in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie sagt, gerade Deutschland brauche klare Regeln: zumutbare Arbeitszeiten, eine verpflichtende Sozialversicherung, eine Regulierung der Vermittlungsagenturen, die oft zu viel Geld selbst einstecken würden. Aber nach wie vor arbeiten viele Betreuerinnen „schwarz“. „Momentan profitieren die Menschen in Deutschland mehr von dieser Migration als die Rumänen“, sagt Elena. „Leider.“
Ein paar Schritte von ihrem Familienhaus entfernt kommt Ioan Cilian den Berg heruntergerollt, seine Familie wohnt am Dorfrand. Er steigt aus seinem Pick-up. Ioan ist 24 und studierter Bauingenieur, verdient aber seit Jahren sein Geld mit Jobs in Westeuropa. Erntehelfer in Deutschland, Fahrer in England, irgendwo zwischen Sheffield und Leeds, dann Lagerarbeiter. Aber weil auf der Insel alles so teuer war, sparte Ioan praktisch nichts. „Ein Reinfall, ich habe anderthalb Jahre meines Lebens verloren“, sagt er.
Heute arbeitet Ioan auf Kreuzfahrtschiffen. Für einen rumänischen Subunternehmer repariert er Balkone und Terrassen, wenn die Schiffe im Hafen liegen. Ioan zeigt Videos von der „Aida“. Gerade hat er dort ein Restaurant saniert, jetzt sieht es aus wie auf einer Almhütte. Ioan schlief umsonst auf dem Schiff, die Bezahlung war pünktlich und lag vor allem über Mindestlohn. Endlich bleibt etwas übrig.
In ein paar Monaten will Ioan mit dem Ersparten in die nächstgrößere Stadt ziehen: Cluj-Napoca. Er will ein ruhigeres Leben, eine kleine Familie und als Bauingenieur arbeiten, endlich. „Es wird ein paar Jahre dauern, bis ich ähnlich gut verdiene“, sagt er. „Aber es wird gehen.“
Auf deutschen Feldern, italienischen Schiffen, im Lager in England – Ioan hat überall Menschen aus Osteuropa getroffen. „Habt ihr euch mal überlegt, was passiert, wenn die Osteuropäer nicht mehr kommen?“, fragt er. „Eure Länder wären ruiniert.“
Giorgiana Hornaru ist dieses Jahr wieder Äpfel pflücken gefahren. Der Bauer hat sie pünktlich bezahlt, 7,30 Euro die Stunde. Und in Zukunft? „Manchmal glaube ich, dass ich ein bisschen dumm bin“, sagt Giorgiana. Im Ausland könne man schnell Geld verdienen. Aber mit mehr Anstrengung ginge das in Rumänien auch – und es wäre von Dauer. Ihr Freund zum Beispiel verdiene als Bauarbeiter in der Großstadt ähnlich viel wie auf den Feldern in Italien.
Die Krankenschwester Elena Cira ist nach vielen Jahren im Ausland in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Sie versorgt Ältere und Arme in der Region, finanziert werde das Projekt mit Geldern der EU, sagt sie. Der Job ist bald zu Ende, dann will Elena wieder weg. Deutschland ist eine Option, aber nur, wenn es in einem Land mit faireren Löhnen und geregelten Arbeitszeiten nichts wird. Vielleicht, sagt Elena, ziehe sie bald nach Norwegen.