Zwölf Teller, Gabeln und Messer, ein paar Radieschen und Gurken, eine Packung Eisentabletten. In einer Gemeinschaftsküche irgendwo im Pariser Umland deckt eine junge Frau im Kaftan einen langen Tisch. Es riecht nach Hühnchen und angebranntem Reis, den zwei ihrer Mitbewohnerinnen aus einem riesigen Topf kratzen. „Ey, gestern dachte ich, ich falle um!“, ruft Rahab vom Tisch. Die Antworten der beiden Frauen kommen wie Echos vom Herd: „Ich auch!“ – „Ich auch.“
„Nehmt euer Eisen“, sagt die Maitresse de Maison, die Hausmutter, trocken. Chloé, die erst seit ein paar Tagen da ist, spielt mit ihren Braids, an denen kleine durchsichtige Plastikperlen hängen. „Nimmst du auch schon Eisen?“, fragt Rahab. „Und dieses Zeug gegen Sodbrennen, abends?“ Schulterzucken von Chloé.
Unter Rahabs dunkelbraunem Kaftan, Chloés Sweatshirt, den Kleidern und Pullis der anderen jungen Frauen wölben sich Bäuche. Im Haus der Organisation „Tom Pouce“ leben zwölf Schwangere. Neun Mütter mit Neugeborenen wohnen in einem anderen Haus, eine Viertelstunde von hier. Zum Schutz der Frauen heißen alle Bewohnerinnen in diesem Text anders als in Wirklichkeit.
So unterschiedlich ihre Geschichten sind: Keine der Frauen hat einen Ort, an dem sie und ihr Kind in den Monaten vor und nach der Geburt in Sicherheit wären. Fast alle haben eine Fluchtgeschichte. Sie kamen allein oder mit ihren Familien von den Antillen, der Elfenbeinküste oder aus dem Sudan nach Frankreich. Viele von ihnen sind minderjährig, manche haben keine Krankenversicherung, über die die Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft abgedeckt wären. Das Unterstützungsnetz des französischen Staates fängt sie noch nicht auf, weil die Hilfen nur über komplizierte Anträge zu bekommen sind.
Die meisten von ihnen haben keine Arbeit und gehören zu den mehr als 2.300 Frauen, die die Organisation „Samusocial“ in Paris innerhalb eines Jahres registriert hat – und denen eine Wohnung, ein Unterschlupf bei der Familie oder ein anderer sicherer Ort während der Schwangerschaft fehlt. Für jede Frau bedeutet eine Schwangerschaft ein Risiko für ihre Gesundheit, für jede alleinerziehende Mutter ein gesellschaftliches Risiko der Verarmung, der Isolierung. Die Frauen von Tom Pouce treffen all diese Risiken noch einmal härter, weil sie nach Frankreich geflüchtet sind.
Im Aufenthaltsraum stapeln sich neben einer Sofaecke aus beigefarbenem Kunstleder Gesellschaftsspiele, es gibt Gymnastikbälle, auf dem langen Tisch in der Küche liegt eine abwischbare Tischdecke. Im Türrahmen hängen Putz-, Koch- und Wäschepläne. Für viele der jungen Frauen ist es das erste streng geregelte Zusammenleben. WG-Erfahrung hat hier niemand.
„Wir wollen, dass eine Frau selbst entscheiden kann, ob sie ihr Kind behalten möchte oder nicht – und nicht Armut, Ausgrenzung oder Gewalt“
Während der Bauch wächst, soll die banale Alltagsroutine Ruhe geben. Workshops helfen, Vertrauen zu gewinnen – in sich selbst und andere. Außerdem haben die jungen Frauen Schwangerschafts-Check-ups und Arzttermine. Die Sozialarbeiterinnen helfen bei den komplizierten Anträgen für die vom französischen Staat bezahlte Krankenversicherung für Menschen ohne Papiere oder schreiben mit den Frauen gemeinsam Fragen für die Ultraschalluntersuchung auf. Die Frauen lernen, sich um sich selbst zu kümmern – um irgendwann, in einigen Wochen, Monaten, für eine weitere Person sorgen zu können.
Eine der jungen Frauen, hochschwanger, kommt im kurzen blau-weiß gestreiften Kleid angerauscht, trotz der durch die alten Fenster hereinziehenden Kälte. „Läufst du im Treppenhaus?“, ruft Rahab, die gerade das Wasser aus ihrer Wärmflasche zurück in den Wasserkocher kippt. „Ja, kann es kaum noch erwarten!“, brüllt die Frau zurück, schon draußen auf der Terrasse. „So kann man die Wehen einleiten“, sagt Rahab mit wissendem Blick. Chloé zappt an ihrem Handy durch Hip-Hop-Videos, sie lässt ihre schwarz-weißen Adiletten im Takt auf den Boden schlappen, zieht den Pullover über ihren Bauch. Über das Kind, das sich darin bewegt, sagt sie: „Natürlich wollte ich es behalten, ich bin ja schon seit drei Jahren mit meinem Freund zusammen.“
Chloé, die von den Antillen kommt, ist selbst noch fast ein Kind – wie ihr Freund. Das Smartphone, ein Geschenk von ihm, legt sie nie aus der Hand, selbst beim Essen nicht. „Ich bin hier, weil ich Angst habe, dass man mir das Kind wegnimmt, wenn ich nicht zurechtkomme“, sagt sie.
Neben Chloé stochert Zahra lustlos im Essen. „Mein Kind wird in so eine furchtbare Welt geboren“, sagt sie. „Ich werde es beschützen. Es wird nicht in die Schule gehen, ich werde es zu Hause erziehen.“ Natalie, eine von zwei Psychologinnen im Maison Tom Pouce, schaut sie aufmerksam an. In Frankreich gilt für Kinder von Geflüchteten die Schulpflicht zwischen sechs und 16 Jahren. Später wird die Psychologin erzählen, dass die Frauen wegen ihres Alters oft Schwierigkeiten hätten, ihre neuen Lebensumstände zu begreifen. „Sie leben in einer Traumwelt. Sie sagen: Ich kann mit einem Baby umgehen, ich hatte eine kleine Schwester!“ Dazu kommen Traumata von der Flucht, von Vergewaltigungen und Familienstreits. Erfahrungen, die es schwer machen, sich die Zukunft vorzustellen und zu planen. Viele der jungen Mütter leiden unter Konzentrationsproblemen, Albträumen, wachen frühmorgens auf und können nicht mehr einschlafen.
Im zweiten Haus – da, wo die Mütter mit den Neugeborenen leben – kommt Marguerite aus ihrem Zimmer. Die 25-Jährige dürfte gar nicht in Frankreich sein, sie hat keine Aufenthaltsgenehmigung – und auch keine Familie, die sie auffängt. Ihre Mutter starb kurz nach der Geburt, mit ihrem Vater floh sie von Guinea nach Portugal. Dort wurden sie getrennt, und sie kam mit sieben Jahren in ein Kinderheim. Als Jugendliche holte ihre Schwester sie nach Paris, später landete sie bei einer Cousine in Metz.
Die Sorge um die Papiere bestimmt ihren Alltag. Dennoch wirkt sie im Vergleich zu den anderen Bewohnerinnen ruhig und aufgeräumt. In ihrer durchsichtigen Handyhülle steckt ein Zettel mit Notfallnummern, ganz oben die Telefonnummer vom Maison Tom Pouce. Keine Aufenthaltsgenehmigung, kein Schulabschluss, für viele bedeutet das unweigerlich: keine Zukunft. Vor einigen Jahren lernte Marguerite einen Mann kennen, von dem sie nun schwanger wurde. Die Cousine setzte sie auf die Straße, drei Tage lang schlief Marguerite in einem verlassenen Gebäude. Dann rief sie die Hotline 115 an, die Notunterkünfte vermittelt, doch niemand konnte ihr helfen. Im Internet fand sie das Maison Tom Pouce.
Als sie dort ankam, lag auf ihrem Bett schon ein gehäkelter Strampler, den jede Frau zur Ankunft bekommt. Marguerite weinte vor Erleichterung. „Ich wollte immer ein Kind“, sagt sie heute. Aber da war auch die Frage: „Wie werde ich das bewältigen?“
„Wir wollen, dass eine Frau selbst entscheiden kann, ob sie ein Kind behalten möchte oder nicht – und nicht Armut, Ausgrenzung oder Gewalt“, sagt Marie-Noëlle Couderc, Direktorin des Maison Tom Pouce. Was den Müttern fehle – „ein Dach über dem Kopf, ein sicherer Ort zum Schlafen, Stabilität“ –, das könne ihnen das Haus während der Schwangerschaft und nach der Geburt geben. Anderes nicht: Das Gefühl, vom Vater des Kindes oder von der Familie hängen gelassen worden zu sein, können die Sozialarbeiterinnen nicht ausgleichen. Das Maison Tom Pouce verschafft den Frauen eine Atempause, mehr nicht. Und dennoch ist das in der Welt, in der sie leben, sehr viel.
„Zum Glück ist Marguerite da“, sagt Jeannot über ihre Mitbewohnerin. Manchmal, wenn die Babys schlafen, hören sie zusammen Rihanna, ihre Lieblingsmusik – in einem der Zimmer unter dem Dachgeschoss voller Babysachen und Klamotten. Langeweile haben sie nie. „Das geht mit Baby gar nicht“, sagt Jeannot.
Im Zimmer nebenan fängt ein Baby an zu weinen. Jeannots Tochter stimmt ein, strampelt, ein Schuh fällt ab, sie krampft sich mit der Hand in Jeannots weißer Bluse fest. Jeannot seufzt, öffnet zwei Knöpfe, legt die Kleine an ihre Brust. Marguerite, die auf dem Stuhl neben ihr sitzt, streicht ihrem anderthalb Monate alten Sohn über die Wange. So, dass ihre langen Fingernägel seine zarte Haut nicht berühren.
Während die Frauen also in einem Haus auf die Geburt ihrer Kinder warten, warten sie im anderen darauf, dass das echte Leben mit Kind losgehen kann. Jeannot und Marguerite haben schon den Sozialarbeitersprech übernommen: Sie wollen nach ihrem Auszug aus dem Maison in „Semiautonomie“ leben, in Halbselbstständigkeit. Also eine Art betreutes Wohnen in einer eigenen Wohnung. Jeannot möchte eine Ausbildung zur Hausmeisterin machen, Marguerite will ihr Fachabitur machen, Immobilienmaklerin werden – „und Poledance lernen“.