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Niemandsland

In „Disco Boy“ zieht ein junger Mann für die französische Staatsbürgerschaft in den Krieg. Am Ende aber will er kein Franzose mehr sein

Disco Boy

Worum geht’s?

Um Aleksei, wortkarg und gefasst gespielt von Franz Rogowski. Ohne gültiges Visum schlägt er sich von Belarus nach Frankreich durch und tritt dort der Fremdenlegion der französischen Armee bei. Der Grund: eine Aufenthaltserlaubnis mit Aussicht auf die französische Staatsbürgerschaft. Außerdem geht es in „Disco Boy“ um Jomo (Morr Ndiaye), der als Anführer einer Rebellengruppe in Nigeria gegen die das Nigerdelta ausschlachtenden Ölkonzerne kämpft. Als Jomos Guerilla französische Zivilisten als Geisel nimmt, schaltet sich das französische Militär ein: Es wird ebenjene Truppe entsandt, zu der nun Aleksei gehört. Im Gefecht, das daraufhin entsteht, trifft Aleksei auf Jomo, und bringt ihn um, anscheinend in Notwehr. Zurück in Paris sieht er in einem Nachtclub eine junge Frau, die genau wie Jomo zwei unterschiedliche Augenfarben hat. Dass es sich dabei um dessen Schwester Udoka (Laetitia Ky) handelt, kann er nicht wissen. Fortan träumt Aleksei von den beiden und bald bekommt auch sein rechtes Auge den goldfarbenen Ton, der das Geschwisterpaar kennzeichnete.

Worum geht’s eigentlich?

Um Identität. Oder besser: die Suche danach. Aleksei kommt als „sans-papier“, also ohne Ausweispapiere nach Frankreich. Ganz ohne Besitztümer wirkt er zunächst buchstäblich identitätslos. Erst durch seine Tattoos erfahren wir ein wenig über seine Vergangenheit – dass er als Waise aufgewachsen ist und später in Belarus im Gefängnis war. Im Zuge seiner Rekrutierung bekommt er vom französischen Staat eine neue Identität verpasst, inklusive eines französisch klingenden Namens. Fortan soll er sich als der Soldat Alex ganz der Armee hingeben, erst nach fünf Jahren winkt mit der EU-Staatsbürgerschaft das Versprechen auf ein neues Leben als unabhängiger Mensch. Doch Aleksei kommt nicht von den Gedanken an Jomo und Udoka los. Als sein Offizier die Truppe auffordert, beim Marschieren Édith Piafs „Non, je ne regrette rien“ („Nein, ich bereue nichts“), zu singen, verweigert er den Befehl. In diesem Moment wendet Aleksei sich gegen die Militärautorität und gegen ein französisches Selbstverständnis, für das Édith Piaf als bekannteste Chanson-Sängerin steht. Aleksei weigert sich, sein Gewissen aufzugeben, er will kein Franzose mehr werden. Er zündet seine vorläufigen Ausweispapiere an, zusammen mit seiner Uniform.

Disco Boy - In concorso al 73° Festival Internazionale del Cinema di Berlino | Trailer SUB ITA HD

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Gut zu wissen:

Die Fremdenlegion oder Légion étrangère ist seit 1831 ein Teil des französischen Heers, der hauptsächlich aus freiwilligen Soldaten ohne französische Nationalität besteht. Die Regelung des sogenannten „Anonymat“ sieht tatsächlich vor, dass Fremdenlegionäre zumindest zeitweise eine neue Identität annehmen, inklusive eines neuen Namens, Geburtsorts und -datums. Diese Identität kann mit dem Erlangen der französischen Staatsbürgerschaft nach fünf Jahren unter Umständen beibehalten werden. In der Vergangenheit nutzten die Soldaten das Anonymat auch zum Schutz vor Strafverfolgung. Heute wird eine mögliche kriminelle Vergangenheit der Rekruten aber zuvor geprüft.

Wie wird’s erzählt?

Getragen durch den pulsierenden Soundtrack des französischen Technomusikers Vitalic wabert das Spielfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese atmosphärisch vor sich hin. Es wird gar nicht erst versucht, das teils übersinnliche Geschehen zu erklären. Stattdessen müssen die Zuschauenden sich selbst einen Reim auf die symbolträchtigen Bilder machen. Flüsse nehmen darin einen zentralen Raum ein. Zum Beispiel die Begegnung von Aleksei und Jomo im Gewässer des Nigers: Das Aufeinandertreffen ist mit einer Wärmebildkamera gefilmt, wodurch die beiden kaum voneinander zu unterscheiden sind. Beim Ringen überlagern sich ihre Körper. Und damit auch die Identitäten der beiden Personen, ihre Grenzen werden genauso fließend wie das Gewässer um sie herum. Diese abstrakten bunten Bilder des Kampfgeschehens finden ihr Echo in den späteren Club-Sequenzen: Auch hier lassen pulsierende Lichter körperliche Festschreibungen verschwimmen.

Lohnt sich das?

„Disco Boy“ plädiert gegen die blinde Hingabe an einen Militärapparat – und gegen die Festschreibung von Identitäten. Dass Aleksei bei einer militärischen Intervention für eine westliche Macht in Afrika nicht nur einen Menschen ermordet, sondern sich im übertragenen Sinne dessen Identität einverleibt – was für ihn letztlich auch noch befreiend wirkt –, reflektiert der Film allerdings nicht. Mehr als eine vermeintlich progressive Botschaft stehen hier die stimmungsvollen Bilder (Kamera: Hélène Louvart) und die brodelnde Musik an erster Stelle.

„Disco Boy“ wurde im Rahmen des Berlinale-Wettbewerbs uraufgeführt (und soll im Sommer 2023 in die deutschen Kinos kommen).

Titelbild: Films Grand Huit

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