Olena Schewtschenko hat aktuell wenig Zeit, ihre Tage sind voll: Sie entlädt und packt täglich 250 bis 300 Pakete mit Lebensmitteln, Medikamenten, Wintervorräten. Dann telefoniert sie mit den Menschen, die ihre Unterstützung brauchen. Schließlich noch die Gespräche mit den Medien, Berichte und Anträge an Spender, Posts in sozialen Netzwerken. Und endlos viele Treffen mit Partnerorganisationen.
Schewtschenko ist Menschenrechtsaktivistin. Sie leitet „Insight“, eine NGO, die sich in der Ukraine um die Belange von Menschen aus der LGBTQI+-Community kümmert. 2023 zeichnete das Magazin „Time“ die 40-Jährige als Woman of the Year aus. Vor dem Krieg hat sie sich dafür eingesetzt, den Schutz von Menschen aus der LGBTQI+-Community gesetzlich zu verbessern und sie medizinisch, psychologisch und rechtlich zu beraten. Jetzt ist vieles anders.
„Es dauerte eine Weile, bis wir begriffen, dass es keine Rückkehr zu dem Leben geben wird, das wir vor dem Krieg geführt haben“
Im Februar 2022 erwachten die Ukrainer im Krieg. Unzählige Menschen sind seitdem geflohen, Wohnungen und Häuser sind zerstört, vielerorts fällt der Strom häufig aus, es ist kalt, ständig heulen Sirenen, und die Angst vor dem, was noch kommen mag, ist allgegenwärtig. Und doch rücken die Menschen nicht voneinander weg, sondern näher zusammen. „Es dauerte eine Weile, bis wir begriffen, dass es keine Rückkehr zu dem Leben geben wird, das wir vor dem Krieg geführt haben. Aber wir fanden die Kraft, sofort mit der Unterstützung der am stärksten benachteiligten Gemeinschaften zu beginnen“, sagt Schewtschenko.
Direkt nach Kriegsbeginn organisierten NGOs, aber auch spontane lokale Netzwerke Lebensmittel, Medizin und Hilfstransporte. In vielen Orten gründeten sich Nachbarschaftshilfen und Bürgerwehren. Dass dies gelang, liegt auch daran, dass sich die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren sehr verändert hat. Die Zahl der NGOs stieg immer weiter an.
Das war nicht immer so. Als die Ukraine Teil der Sowjetunion war, gab es keine autonomen Organisationen, da diese zwangsweise in staatliche Institutionen integriert waren. Mit dem Zerfall der Sowjetunion änderte sich das.
Zum Erweckungserlebnis wurde der Euromajdan 2013/14. Gemeinsam spürten die Menschen, dass sie etwas verändern können – ihre Proteste zwangen schließlich den damaligen Präsidenten Janukowytsch zum Rücktritt. Ein Umsturz unter dem gemeinsamen Druck der Bevölkerung, der vielen Ukrainern ein Gefühl der Selbstwirksamkeit verlieh. In der Zeit danach ersetzten zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich damals gegründet hatten, einige staatlichen Funktionen, da die Behörden damit vielfach überfordert waren. Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung der Binnenflüchtenden.
Am 1. Januar 2022 waren über 90.000 öffentliche Vereine in der Ukraine registriert. Die Regierung hat in den letzten Jahren die Bedingungen für zivile Organisationen verbessert. Trotzdem gibt es häufig noch ein gegenseitiges Misstrauen zwischen Zivilgesellschaft und staatlicher Ebene. Hinzu kommen bürokratische Hürden und eine starke Abhängigkeit von externer Finanzierung.
Iryna Tschernysch kämpfte mit ihrer Organisation „SaveDnipro“ vor dem Krieg gegen die Gesundheits- und Umweltbelastungen durch die Kohleindustrie im Land. Als die russischen Truppen nach ihrem Einmarsch in der Tschernobyl-Zone kontaminierte Erde aufwirbelten, herrschte große Unsicherheit, ob dadurch die radioaktive Strahlung in der Umgebung ansteigen könnte. „SaveDnipro“ konnte genau feststellen, wie hoch die Belastung war. „Unser System hat funktioniert“, sagt Tschernysch der „taz“. Weil die ukrainische Regierung wegen des geltenden Kriegsrechts kaum Umweltdaten veröffentlicht, sammelt die Organisation Daten zu Umweltbelastungen, die Bürgern in Gefahrensituationen wie in Tschernobyl helfen sollen.
„Auch für den Wiederaufbau wird eine plurale und aktive Zivilgesellschaft gebraucht“
Denn einige NGOs übernehmen auch im Krieg wichtige Aufgaben, denen die Regierung gerade nicht nachkommen kann. Und sie schauen besonders jetzt genau hin. Trotz des Ausnahmezustands wird in der Ukraine immer noch auch normale Politik gemacht, die nichts mit dem Kriegsgeschehen zu tun hat. Daher sind NGOs auch jetzt weiterhin wachsam und arbeiten daran, Gesetzesänderungen und politische Entscheidungen genau zu überwachen und zu prüfen – und, wenn nötig, öffentlich zu kritisieren.
Hannah Landwehr arbeitet als Leiterin des Ukraine-Programms der deutschen Friedensorganisation „Forum Ziviler Friedensdienst“ seit Jahren mit Organisationen vor Ort zusammen. Ihr ist wichtig: „Innergesellschaftliche Konflikte, die es vor dem Krieg gab, sind auch im Krieg nicht einfach verschwunden und werden nach dem Krieg vermutlich wieder verstärkt zum Vorschein kommen.“ Deshalb müssten in der Zivilgesellschaft weiterhin auch andere Perspektiven möglich sein. „Auch für den Wiederaufbau wird eine plurale und aktive Zivilgesellschaft gebraucht.“
Nach einem Jahr Krieg spürt Olena Schewtschenko deutlich die Belastungen ihrer Arbeit: „Es gibt so viele Probleme, dass es schwer ist, sie alle zu benennen. Der Verlust von Freunden, Verwandten, die getötet wurden. Verlust von Häusern und Mangel an Ressourcen, um zu überleben und unsere Arbeit fortzusetzen. Angst vor Besetzung und Folter durch Russen aufgrund des LGBTQI+-Status.“
Trotzdem gibt ihr die Solidarität der Bevölkerung Hoffnung: „Unsere Zivilgesellschaft ist unsere wichtigste Kraft. Ich würde sagen, sie ist das, was unsere Gesellschaft in die Zukunft treibt.“
Titelbild: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images