Thema – Europa

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Gehen oder bleiben?

Im Kosovo fehlt es vielen an Geld, Jobs und Hoffnung. Gleichzeitig hat das kleine südosteuropäische Land die jüngste Bevölkerung Europas – und die will einiges verändern

Bubble Pub

Freitagabend, Pristina: Die Bars der „Raki Street“, gleich in der Nähe des Mutter-Teresa-Platzes im Zentrum der Stadt, sind voller junger Menschen. Laute elektronische Musik tönt aus Boxen, Menschen stehen rauchend und trinkend auf der Straße und unterhalten sich. Wer hier durchkommen will, muss sich an feiernden Kosovar:innen vorbeiquetschen. Das Bubble Pub liegt gleich um die Ecke und ist die erste queere Bar des Landes. Die Wände im Innenbereich sind aus Backstein, neben dem DJ-Pult hängt ein Zaun aus Metallstangen, ein paar junge Männer tanzen. Die Party fängt gerade erst an. Pristina ist bekannt für sein Nachtleben, immer wieder machen neue Clubs und Bars auf. Wenn man durch die Stadt läuft, scheint es fast so, als gäbe es hier keine alten Menschen. Kein Wunder: Rund die Hälfte der Einwohner:innen des Kosovos ist unter 30.

Damit ist die Bevölkerung des Landes die jüngste Europas. Doch nach dem Kosovokrieg und der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2008 fehlt es in dem kleinen Land an vielem: Geld, Infrastruktur, Jobs. Die einen wollen einfach so schnell wie möglich weg, die anderen wollen das Land verändern.

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Bubble Pub
Im Bubble Pub in Pristina lässt es sich gut reden (rechts sitzt Lends Geschäftspartner Yll Rahmani, der die Bar mitgegründet hat)...

Das Bubble Pub hat im April 2022 eröffnet und sollte ein Ort für die LGBTQI+-Community werden. Ein Ort, den sich Betreiber Lend Mustafa sein ganzes Leben lang wünschte: „Es ist ein befreiendes Gefühl zu sehen, wie hier alle sie selbst sein können“, sagt der 26-Jährige. Er hat kurze Haare, leichten Bartwuchs und weiche Gesichtszüge. Wie so viele im Land verbindet ihn eine Geschichte mit Deutschland: Seine Eltern flüchteten wegen des Krieges ins baden-württembergische Waldkirch, später wuchs er aber im Kosovo auf. In Pristina lebt er gemeinsam mit seinem Partner und arbeitet nebenbei als Projektmanager für eine NGO.

Die queere Community ist im Kosovo nicht besonders sichtbar. Zwar wird schon seit 2017 jedes Jahr eine Pride veranstaltet, in der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung gilt Queersein jedoch oft als schwieriges Thema, Ablehnung ist weit verbreitet. Der Premierminister plante erst kürzlich, die eingetragene Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare einzuführen. Doch der Vorschlag wurde vom Parlament abgelehnt. Dabei schützt die Verfassung des kleinen Landes theoretisch ausdrücklich vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung – anders als in Deutschland.

Bubble Pub
... aber noch besser lässt es sich hier feiern

Lend ist in seiner Heimat bekannt, weil er die erste kosovarische Person war, die öffentlich zu ihrer Transgeschlechtlichkeit stand. Das war nicht immer einfach, und die Reaktionen waren häufig negativ. Schon seit Jahren hatte er den Plan, seine eigene Bar zu gründen, es fehlte aber immer das Geld. Als er 2021 endlich Unterstützer:innen fand, arbeitete er für die Eröffnung eng mit der Polizei zusammen. Die Menschen sollen hier schließlich genauso sicher sein wie in anderen europäischen Städten.

Wenn Lend über seinen Job und seinen Aktivismus spricht, wirkt er euphorisch, und man spürt, dass er eine Vision für seine Heimat hat. Dank seines Jobs konnte er schon häufig durch Europa reisen, andere Städte besuchen und sich von anderen queeren Bars in europäischen Metropolen inspirieren lassen. Schon seit Jahren hätte er die Möglichkeit auszuwandern, erzählt er, und einen besser bezahlten Job im Ausland zu finden, aber nichts erfülle ihn mehr, als im Kosovo für seine Community und andere Minderheiten zu kämpfen: „So chaotisch es hier auch ist, ich würde nirgendwo anders lieber leben.“

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Bubble Pub
Seit 2022 versucht das Bubble Pub ein Safe Space für die queere Community im Kosovo sein

Für die meisten Kosovar:innen ist es aber fast unmöglich, das Land zu verlassen. Selbst für einen kurzen Trip in den Schengenraum brauchen sie derzeit noch ein Visum, und der Antragsprozess dauert oft lange, ist kompliziert und teuer. Nachdem die Frage der Visaliberalisierung jahrelang politisch blockiert wurde, einigte sich die EU im vergangenen Dezember: Ab dem Jahr 2024 dürfen Kosovar:innen ohne Visum in die EU einreisen.

Die 26-jährige Nerona träumt wie viele junge Kosovar:innen genau davon. „Ich möchte andere Orte sehen und neue Kulturen kennenlernen“, sagt sie. Nach Kroatien würde sie zum Beispiel gerne reisen oder in die Niederlande. Als ihr Bruder in Slowenien studierte, wollte sie ihn besuchen; sie versuchte, ein Visum zu beantragen, gab aber schnell wieder auf: „Ich fühle mich manchmal wie in einem Käfig.“

 

Nach ihrem Bachelor in Buchhaltung brauchte Nerona eine Auszeit, erzählt sie: „Aber ich konnte einfach nirgendwohin, wo ich noch nie gewesen war.“ Deshalb plant sie nun, ihren Master im Ausland zu absolvieren. „Ich denke, dass ich danach zurückkommen werde“, sagt sie. „Aber ich schließe auch nicht aus, im Ausland zu bleiben.“

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Bubble Pub
Wie an vielen Orten in Pristina zeigt sich im Bubble Pub: Die jungen Menschen im Kosovo wollen ihr Land verändern
 

Nicht nur die Visabestimmungen machten es jungen Menschen bisher schwer. Das Kosovo gilt als eines der ärmsten Länder Europas, mehr als 17 Prozent der Bevölkerung leben an der Armutsgrenze. Unter anderem deshalb kam es 2014 und 2015 zu einer großen Auswanderungswelle, während der Zehntausende Kosovar:innen Asyl in der EU beantragten. Mittlerweile sind die Zahlen zwar rückläufig, die Jugendarbeitslosigkeit liegt aber noch immer bei rund 50 Prozent.

Offener, kreativer, exzentrischer: Die Gesellschaft im Kosovo wandelt sich 

Das spürt auch Nerona, die noch immer bei ihren Eltern lebt. Die Löhne im Kosovo seien niedrig, und viele Menschen könnten sich ihren Job nicht aussuchen. Viele hier glauben, genau wie Nerona, dass ihre Arbeit im Ausland stärker wertgeschätzt werde: „Vielleicht denke ich das aber auch nur, weil ich noch nie dort war.“

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Nerona

Nerona will erstmal weg aus dem Kosovo – zumindest für ihren Master

Obwohl sie einen Bachelorabschluss hat, jobbt Nerona seit drei Jahren in einem Buchladen in Pristina. Weil dort auch englischsprachige Bücher verkauft werden, ist er unter jungen Menschen besonders beliebt. Dort – und fast überall sonst in der Stadt – spürt man, dass sich Pristina im Wandel befindet, sagt Nerona: „Junge Kosovar:innen machen, was sie wollen, und lassen sich nichts vorschreiben.“ Die Gesellschaft werde immer offener und aufgeschlossener neuen Dingen gegenüber. „Ich sehe in letzter Zeit immer mehr junge Menschen, die machen, worauf sie Lust haben“, sagt Nerona. Kosovar:innen, die sich exzentrisch anziehen und kreativ sind. „Die Jugend macht unser Land besser, aber wichtige Entscheidungen treffen noch immer die Alten.“

Auch Lend ist frustriert davon, dass die wichtigsten Posten im Land mit korrupten Politiker:innen besetzt sind, wie er sagt. Genau wie Nerona ist er aber fasziniert, wie tolerant junge Menschen in seiner Heimat mittlerweile sind. Für ihn ist allein das ein Grund, dort zu bleiben und etwas zu verändern: „Die Situation ist zwar nicht die beste“, räumt er ein, „aber solange wir einander haben, wird alles gut.“

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.