Thema – Tiere

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Die Waschbär-Chroniken

Weltweit besiedeln Tiere und Pflanzen urbane Räume – und loten so das speziesübergreifende Zusammenleben neu aus. Neukölln ist mit seinen teils stillgelegten Friedhofsflächen, wild wuchernden Brachen und kaum gezähmten Parks ein Hotspot dieser Entwicklung

Waschbär

Neben den Bahngleisen beißt die Gottesanbeterin ihrem Männchen bei der Paarung soeben den Kopf ab, während unweit davon ein Waschbär über die Regenrinne in den Dachboden eines Altbaus einzieht und der Jungfuchs auf der Suche nach einem eigenen Revier plötzlich im Bürgeramt steht. Ja, im Gebäude!

Einer der am dichtesten besiedelten Stadtteile in Berlin verwandelt sich seit einiger Zeit in eine wilde WG aus Menschen, Tieren und Pflanzen. Wildschweine, die zur Rushhour die Hauptverkehrsader kreuzen, sind den Zeitungen mittlerweile keine Meldung mehr wert. Immer mehr Tiere und Pflanzen werden zu Städtern. Das betrifft nicht nur ihren Lebensraum, auch ihr arttypisches Verhalten ändert sich damit. Neukölln ist der Bezirk, wo sogar Tauben Street Credibility entwickelt haben: Sie fahren unbeeindruckt Bus, snacken drinnen ein paar Krümel und steigen dann an der nächsten Haltestelle wieder aus.

Zeitraffer-Evolution im urbanen Raum

Von den 224 Friedhöfen Berlins befinden sich 23 in Neukölln. Territorien des Todes, die sich in lebendige Flower-Power-Grünflächen verwandelt haben, wo Pflanzenwachstum nicht zu englischem Rasen gestutzt wird. Allein an der Hermannstraße liegen sechs Friedhofsflächen dicht beieinander und bilden gemeinsam mit dem Anita-Berber-Park eine grüne Achse bis zum Tempelhofer Feld. Zudem lässt das Bezirksamt Neukölln derzeit auf etwa 10.000 qm Mittelstreifen Pflanzen länger wachsen und mäht nur einmal im Jahr. Dieses sogenannte Straßenbegleitgrün soll sich allmählich zur Wiesenfläche entwickeln dürfen. Das bedeutet ein größeres Nahrungsangebot für Insekten und infolgedessen ein Straßenbüfett für Vögel.

Und doch bleibt Neukölln wie jede Innenstadt ein Extremstandort. Manche Tier- und Pflanzenarten müssen sich derart stark anpassen, um hier überleben zu können, dass Forschende eine Art Zeitraffer-Evolution beobachten. Das betrifft Farbveränderungen, neue Fressgewohnheiten, Veränderungen bei Fortpflanzungsstrategien und abweichende Vogelgesänge im Kiez. Schneckenhäuschen mit hellerem Fassadenanstrich, um im Sommer nicht so leicht zu überhitzen, Vögel, die ihre Lieder in höheren Frequenzen singen, um sich in Konkurrenz zum tiefen Grummeln der motorisierten Blechtiere Gehör zu verschaffen, Motten, die anders als ihre ländlichen Artgenossen dem Reiz von künstlichen Lichtquellen widerstehen können. Und auch einige Pflanzen werden genetisch bereits zu Stadtgewächsen.

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Fuchs
Ein Fuchs muss tun, was ein Fuchs tun muss

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Biber (Fotos: Bastian Thiery)
Auch wilde Nutria leben in Berlin (Fotos: Bastian Thiery)

Bei einer Verwandten des Löwenzahns zum Beispiel hat sich mancher Samen in kürzester Zeit so verändert, dass die Gleitschirmchen der Pusteblume nicht mehr möglichst weit davongeweht werden. Ist diese Fernflugstrategie im ländlichen Raum Erfolg versprechend für eine ausgedehnte Verbreitung, sichert dem Asphaltritzenbewohner in Plattenbaulage das genaue Gegenteil sein Überleben.

Dabei sind die Tiere und Pflanzen Neuköllns mehr als nur anonyme Nachbarn. Tjorven Tenambergen und Meike Borchert, Rangerinnen der „Stiftung Naturschutz Berlin“, sprechen von einer „Lebensgemeinschaft“. In Echtzeit können sie verfolgen, wie aus dem artenübergreifenden Zusammenleben Räume und Wege entstehen, die so von niemandem angelegt wurden. Die verschiedenen Einwohnergruppen – über 300 Wildbienenarten ebenso wie ungebändigte Hecken, Leben spendendes Totholz, aber eben auch die Menschen – leben mit- und voneinander.

Insbesondere Brachen ließen Leben zu, anstatt „es in vorgestanzte Muster hineinzupressen“, sagt der Soziologe Markus Schroer. „Das bedeutet konkret, dass wir gerade in solchen Arealen auf keine fein säuberlich getrennten Lebenswelten treffen.“ Das Bild vom Menschen als aktivem Gestalter vor der passiven Kulisse der Umwelt – in Neukölln weicht es allmählich der Vorstellung einer großen wuchernden, krabbelnden, zwitschernden WG.

Hinweis aus der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hatten wir die Nager in der Bildunterschrift fälschlicherweise als Biber bezeichnet. Wir bitten das zu entschuldigen. 

Titelbild: Ingolf König-Jablonski / dpa / picture alliance

Dieser Text ist im fluter Nr. 88 „Neukölln” erschienen. 
Das ganze Heft findet ihr hier.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.