Maxime und Klara wollen los, nach Hause. Heute Abend haben sie sich bei Lya getroffen. Aber während sie draußen auf dem Hof rumstehen, fällt Klara auf, dass sie noch nie mit der 125er von Maxime gefahren ist. Sie steigt auf das giftgrüne Motorrad. „Maul dich nicht.“ Maxime grinst und reicht Klara ihren Helm. Vorsichtig rollt Klara um die Kurve und ist schon bald im Dunkel der umliegenden Felder verschwunden.
In der Stadt nehmen andere in ihrem Alter den Bus oder die U-Bahn oder gehen mal eben zu Fuß. Die drei Freundinnen, alle 16, hatten lange nur eine Möglichkeit wegzukommen: ihre Eltern. Von Klara zu Lya sind es 17 Kilometer, von Maxime zu Lya vier. Dazwischen liegt die niedersächsische „Tucht“: viele endlose Landstraßen und Felder, dazwischen einzelne Dörfer.
Klaras Dorf hat gut 650 Einwohnerinnen und Einwohner. Unter den dreien hat sie „die Arschkarte“. „Mein Dorf liegt noch mal abgeschiedener, und die anderen wohnen näher beieinander.“ Klara hat zwei jüngere Schwestern, 15 und 13 Jahre alt. Sie selbst spielt Tennis im Verein, besucht in der Schule zusätzlich die Technik-AG. Entsprechend viel fahren ihre Eltern rum. „Die waren sofort einverstanden, als ich mit fünfzehneinhalb den Führerschein für die 125er machen wollte.“ Bei Maxime war es ähnlich. Lyas Eltern haben sich dagegen entschieden: die Kosten. Für Führerschein und Motorrad muss man mindestens 3.000 Euro einplanen. „Und es war ja klar, dass ich mit 16 mit dem Autoführerschein anfange“, sagt Lya. Auch der kostet um die 3.000 Euro.
Inzwischen sind Lya und Maxime in der Fahrschule angemeldet, Klara hat schon die Theorieprüfung für den Pkw bestanden. „Wir kennen niemanden, der nicht seinen Autoführerschein machen will.“ 2022 wurden rund 740.700 Fahrerlaubnisse für Krafträder und Pkw an unter 25-Jährige erteilt. Die Zahl ist laut Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) seit Jahren stabil.
Die Klimakrise und die Debatten um die Klimapolitik haben die Verkehrsentwicklung kaum verändert. Die Menschen sind mehr unterwegs, in den Städten wie auf dem Land, und dabei wächst der Bestand an Pkw. Anfang 2024 waren nach KBA-Angaben gut 49 Millionen Pkw gemeldet.
ÖPNV? Der Schulbus, er fährt zweimal am Tag
„Das Auto bietet immer noch die größte Flexibilität“, erklärt Melanie Schade. „Und wenn keine anderen entsprechenden Angebote da sind, wird das Auto das Mittel der Wahl bleiben.“ Schade leitet die Projektgruppe Kompetenzzentrum für Ländliche Mobilität im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Und betont: „Die Verkehrswende ist nicht nur ein städtisches Unterfangen, auch wenn sie dort meist leichter gelingt.“
In der Stadt sind neue Mobilitätsangebote einfacher einzubringen als auf dem Land. Ein wesentlicher Grund ist die geringere Bevölkerungsdichte dort: Flächendeckende Angebote lohnen sich wirtschaftlich einfach nicht. Ein öffentlicher Nahverkehr (ÖPNV), der bezahlbar ist und regelmäßig fährt, ist für viele Kommunen nicht zu finanzieren.
ÖPNV heißt für Maxime, Klara und Lya: Schulbus fahren. Und der fährt – wie es der Name vermuten lässt – im Takt der Schule. Morgens zur ersten Stunde hin und nachmittags nach der sechsten, siebten oder neunten Stunde zurück. Wenn sie mal später zur Schule müssen, eher Schluss oder eine AG haben: Pech gehabt.
Oder eben eine 125er. Das Leichtkraftrad darf man schon mit 16 fahren. Während Mopeds und klassische Roller höchstens auf 45 km/h kommen, sind auf einer 125er schon mal 110 km/h drin. „Von der Schule brauche ich mit dem Bus 45 Minuten nach Hause, mit dem Motorrad 20 Minuten“, sagt Klara. „Seit ich selbst zum Handballtraining fahre, kann ich mich danach noch spontan mit anderen treffen“, sagt Maxime. Und Lya? Fährt die zehn Kilometer zum Volleyballtraining weiter mit dem Fahrrad, bis sie ihren Führerschein hat.
Eine Fahrgemeinschaft ist schnell organisiert
„Gerade Jugendliche und Senioren sind vulnerable Gruppen, für die es unbedingt entsprechende Mobilitätsangebote braucht“, sagt Melanie Schade. „Nicht nur angesichts der nötigen Verkehrswende, sondern vor allem als wichtiger Baustein für gute Lebensbedingungen auf dem Land.“ Wenn man die ernst nimmt, hieße das, dass es allen Menschen, unabhängig von ihrem Wohnort, auch ohne eigenes Auto möglich sein muss, ihrem Alltag nachzugehen.
Für Maxime, Lya und Klara würden dazu auch Angebote gehören, die nachts fahren. Wenn sie feiern gehen und was trinken wollen, ist die 125er keine Option. Nachts allein mit dem Fahrrad zurückfahren erlauben ihre Eltern nicht. Von Nachtbussen oder Taxis, die extra am Wochenende für Jugendliche für wenig Geld fahren, haben sie in ihrer Region noch nichts gehört. Also heißt es wieder: Elterntaxi. Natürlich wollen alle Eltern lieber hinbringen als nachts abholen. Wirkliche Diskussionen gebe es aber nicht. Es ist einer der Generationenverträge auf dem Land. Ohne Auto geht hier nichts. Alle wissen es, alle handeln danach. Die Fahrgemeinschaften sind also schnell organisiert.
Was hier privat läuft, ist ein Vorbild für die Verkehrswende im ländlichen Raum. Täglich fahren Millionen Pkw über die Landstraßen – aber nur mit durchschnittlich etwas mehr als einer Person pro Fahrzeug und Weg. Heißt: Zwei bis drei Sitzplätze fahren leer herum.
Es gibt Ideen, um das vorhandene Angebot an Pkw auf dem Land besser zu nutzen. Von Apps, die Fahrerinnen und Mitfahrer zusammenbringen, über verschiedene Formen des Carsharings bis hin zu Portalen speziell für Pendelnde. In ländlichen Räumen sei es dabei noch wichtiger, den genauen Bedarf zu ermitteln, sagt Melanie Schade, und entsprechend passgenaue Angebote zu machen. Wichtig sei auch, dass die Angebote Bestand haben: „Die Menschen vor Ort müssen sich darauf verlassen können.“
Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen
Lya, Klara und Maxime verlassen sich vor allem auf sich. Gefeiert wird lieber auf Homepartys als in der nächstgrößeren Stadt, geschlafen immer bei der Person, die am nächsten dran wohnt.
In der Ferne hupt es, kurz darauf kommt Klara wieder angefahren. „Ich wollte eigentlich blinken, aber dann hab ich aus Versehen die Hupe gedrückt. Die sitzt an deiner Maschine anders.“
Sie tauschen sich noch kurz über ihre 125er aus. Ist Klaras durchgehende Sitzbank nun besser als Maximes zweigeteilte? „Ach, egal jetzt“, die beiden müssen nach Hause, morgen ist Schule. Ein aktuelles Thema im Erdkundeunterricht: Wirtschaftsregionen im Wandel – die Automobilindustrie.