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Bahn frei

Schon lange reisen Arbeitsmigranten, Obdachlose und Flüchtende illegal auf Güterzügen. Heute ist Freight-Hopping auch eine internationale Subkultur

Freight-hopping

Als der „Loki“ an Aki und seinen beiden Freunden vorbeiläuft und ein „Mahlzeit“ rübergrummelt, scheint er nicht auf die Idee zu kommen, dass wir seit Stunden in diesem Gebüsch neben einer Abstellanlage für Güterzüge sitzen. Aki und die beiden anderen, Keks, ein Künstler Anfang 40, und JJ, ein Koch Mitte 20, warten auf eine „Tasche“, die sie aus dieser süddeutschen Grenzstadt bringen soll. Richtung Nordwesten, im besten Fall nach Düsseldorf. Von dort wollen sie weiter nach Dänemark und irgendwann in Nordnorwegen ankommen. So der Plan. Aber bisher waren nur „Grainer“ und „Tanker“ dabei.

Wenn man den Männern so zuhört, könnte man denken, sie seien selbst Mitarbeiter der Bahn. Sie studieren Open-Source-Karten und Bahnforen, verstehen die Beschriftungen und Signale, kennen das Streckennetz der Güterzüge auswendig und die Namen aller Loktypen. Die „Taurus“, seine Lieblingslokomotive, hat sich Aki sogar tätowieren lassen. Die drei sind Freight-Hopper: Menschen, die auf Güterzügen illegal durch die Welt reisen. In Deutschland ist die Szene eher klein, aber sie pflegt einen eigenen Slang:

„Loki“, das ist ein Lokführer, der „Grainer“ ein Getreidewaggon, und „Taschen“ heißen die Wagen, auf denen Container geladen werden.

 
Ein Mensch schaut aus einem Güterwaggon in voller Fahrt
Bitte nicht nachmachen: Freight-Hopping ist illegal und lebensgefährlich, vor allem das Aufspringen auf einen Zug

Auf so einen warten sie: Zwischen Container und Wagen ist ein Spalt, in den sich die drei quetschen und quer durch Deutschland fahren wollen.

JJ tarnt sich mit einer Warnweste und verschwindet in den Reihen stehender Güterzüge, um die Lage zu checken. Aki hievt seinen Rucksack mit Hängematte, Schlafsack, zwei Unterhosen und viel Wasser hinter sich und beginnt zu erzählen. Eigentlich habe er als U-Bahn-Surfer angefangen. Ein irres Risiko für einen so kurzen Adrenalinrausch, sagt Aki. „Irgendwann habe ich mich dabei nur noch dumm gefühlt.“ Ein Bekannter aus Tschechien nahm ihn vor drei Jahren mal mit auf einen Güterzug, seitdem fährt Aki so durch die Welt, mehrere Monate im Jahr.

Mit Mitte 20 hat er große Teile Europas gesehen und ist auf einem Kohlewaggon durch die marokkanische Wüste gefahren. Schon schön, aber ginge doch auch komfortabler, mit der Bahn oder per Anhalter? Aki guckt, zieht an seinem Joint und überlegt. „Kostenlos reisen“, sagt er. Man sieht ihm an, dass das nicht der ganze Grund ist. Dann holt Aki aus. „Die industriellen Gegenden ziehen mich an“, sagt er. „Etwas abseits der Zivilisation sein, die Landschaft genießen: Für mich ist das eine Art Meditation.“

Meditativ war die Fortbewegung mit Güterzügen nicht immer. Die Große Depression in den USA der 1930er-Jahre zwang Millionen Menschen, der Saisonarbeit hinterherzuziehen. Sie hätten sich die langen Wege zwischen den Bundesstaaten gar nicht anders leisten können. Später wurden die „Hobos“ populär, obdachlose Reisende, die das Aufspringen zum Lifestyle machten. Wie viele aktive Freight-Hopper es gibt, wissen Aki und seine Freunde nicht. Aber die Szene scheint größer geworden zu sein, seit einige Train-Hopper ihre Trips posten.

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Ansicht eines Bergpanoramas aus einem Güterwaggon
Freight-Hopper kommen rum in der Welt …

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Ein Freight-Hopper in einem fahrenden Güterzug
… ist halt bloß nicht wirklich bequem

 

Das ist selbst innerhalb der Szene nicht unumstritten: Das Aufspringen ist illegal und vor allem lebensgefährlich. Der Starkstrom in den Oberleitungen, glitschige Steine in den Gleisbetten, das Timing beim Auf- und Abspringen. Das, sagt Aki, sei der gefährlichste Moment: Beim Anrollen können sich die Züge unerwartet bewegen, da gerate man leicht unter die Räder. Klar: Was er und seine Leute hier vollziehen, ist keine Panoramafahrt mit Sonnenuntergang im Nacken und einem Zahnstocher zwischen den Zähnen, sondern kann in Deutschland Anlass sein für eine Haftstrafe. Aki aber behauptet, die Risiken abschätzen zu können. Er sei noch nie erwischt worden und habe keine Angst vor Konsequenzen. Als Weißer mit europäischem Pass drohe ihm ohnehin maximal eine Geldstrafe, sagt er, wenn überhaupt. Es ist eher ein moralisches Dilemma, das ihn beschäftigt: Auch Flüchtende versuchen, auf Güterzügen Grenzen zu überwinden.

Wieder schlurft ein „Loki“ vorbei, die Bundespolizei kreuzt die nahe gelegene Straße, ohne Notiz von uns zu nehmen, und Aki erinnert sich an Marokko. Einer seiner Trips durch die Wüste sei in Melilla gestartet. Die spanische Exklave hat eine Landgrenze zu Marokko, an der seit Jahren Flüchtende sterben. „Ich stand an dieser Grenzanlage“, erzählt Aki, „vor diesen riesigen Zäunen, überall waren Wachen mit Maschinengewehren.“ Er traf Menschen auf der Flucht, die auf Güterzügen in die Europäische Union kommen wollen. Sie machen das für ein besseres Leben. Er macht das fürs Vergnügen. „Irgendwie scheiße“, sagt Aki, „nur hilft mein schlechtes Gewissen den Menschen dort auch nicht.“

Seine Freunde sind von ihren Erkundungstouren zurück, einer observiert das Gelände mit einem Fernglas. Keine „Tasche“. Freight-Hopping, scheint es, heißt warten. Einmal, sagt Aki, habe es vier Tage gedauert, bis der richtige Zug einfuhr. Die Zeit vertreiben sich die drei mit Geschichten und Gesprächen über neue Projekte. Keks spricht über Brombeeren, die er unterwegs einsammelt und zu Marmelade einkocht. Aki plant ein Fotozine von ihrem Trip nach Norwegen. Freight-Hopping ist eine Subkultur wie Graffiti oder Urbexing, das Erkunden verlassener Orte. Es geht um eine Art von DIY-Kultur und um die Aneignung von Raum, am besten über die Grenzen des Legalen hinaus. Um Abenteuer also und natürlich um die Geschichten, die man sich während der langen Wartezeiten in Gebüschen erzählen kann.

Ein Mann sitzt heimlich auf einem Güterwaggon
Nichts für schwache Blasen: Toiletten gibt es in Güterzügen keine

Als es dämmert, erzählt JJ, wie er mal in Warnweste in einem Zugdepot stand und ein Fahrer ihn ertappte. Er gab sich als Fahrer aus, punktete durch sein Fachwissen, und schließlich nahm der richtige Lokführer den falschen in der Lok mit. Die beiden folgen sich bei Instagram. Gelächter, die Stimmung ist gut im Gebüsch, gerade jetzt, wo es um die Toilettensituation auf den Reisen geht.

Aki: „Manche Züge haben Löcher im Boden. Da steckt man halt einfach rein und lässt laufen. Lustiges Gefühl. Für Frauen aber schwieriger.“

JJ: „Mir fällt es schwer unterwegs.“

Aki: „Stuhlgang ist ein Thema. Während der Fahrt würde ich nicht empfehlen, sonst scheißt man sich an. Manchmal muss man einfach einen Waggon weiter gehen.“

Dieser Text ist im fluter Nr. 92 „Verkehr“ erschienen

Und dann wird es hektisch. Im Hintergrund hört man einen Zug einfahren. „Jetzt könnte was gehen“, sagt Aki. Die drei rennen aus dem Gebüsch, klettern zwischen den Reihen aus Güterzügen hindurch, die „Tasche“ ist in Blicknähe. „Pscht“, sagt Aki plötzlich, und wir stehen gequetscht auf der Kupplung eines Waggons, halten die Luft an, hören Stimmen, sehen Füße unter dem nächsten Waggon.

Dann geht es weiter zur „Tasche“. Der Spalt zwischen Container und Wagen ist winzig. Sie quetschen sich hindurch, liegen auf schmalen Plattformen, direkt darunter die Schiene. Drei Minuten später fährt der Zug ab. „Es regnet, und wir sind durch Regensburg“, schreibt Aki eine Stunde später bei Signal. Nachts werden sie die Reise unterbrechen, durchnässt, aber schon in Stuttgart.

Die Fotos auf dieser Seite hat Aki gemacht.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.